Neuromancer
Eclipse unverkennbar von bereits vor-handenen Tendenzen ab. Eclipse ist das, was heutzutage so rar ist: ein zor-niger, politisch engagierter SF-Roman, woraus Shirley kein Hehl macht.
Wodurch wird Shirley zu einem echten Neuromantiker? Nun, zum einen
entstammen die meisten Charaktere in Eclipse, zumindest die sympathi-schen, dem gleichen Grenzbereich unter der Gürtellinie der »high tech«-
Gesellschaft, wie es in Neuromancer der Fall ist, und ist Shirleys stilistisches Empfinden insgesamt noch bewußter im Geist der Straße als bei Gibson.
Hier allerdings wird das »Punk-Empfinden« auf eine sehr tiefsinnige und
herausragende politische Analyse angewandt, so daß wir, wenn wir Polito—logie als Wissenschaft akzeptieren, Eclipse als »hard science fiction« im Ex-zeß anerkennen müssen.
Während Eclipse reichlich mit konventioneller Aggression und Action bestückt ist, findet die entscheidende Schlacht im Gitter statt, wie Shirley das internationale Mediennetz nennt, das die Erde überzieht. Die Faschi-264
sten machen raffiniert Gebrauch davon. Die sowjetische Gesellschaft hingegen kann sich nicht damit anfreunden. Und der Widerstand versucht verbissen, sich Zutritt zu verschaffen. Was nämlich durch die erweiterten elektronischen Sinne wahrgenommen wird, das hat mehr psychische Realität als wirkliche Ereignisse in der sogenannten realen Welt und prägt folg-lich die politische Realität zuverlässiger als physische Gewalt.
Am Höhepunkt von Eclipse (tja, es ist das erste Buch einer Trilogie) zer-malmt der faschistische Moloch buchstäblich den Arc de Triomphe, das eigentliche Symbol des Widerstands. Aber Rickenharp, Rockmusiker und Widerstandskämpfer, hat das Dach des Triumphbogens mit Instrumenten, Mikrophonen und Verstärkern besetzt, und seine letzte Performance bis
zum Tod vor den Augen der Welt via Gitter wandelt den Faschistensieg
zur symbolischen Verherrlichung des Widerstands, was Shirley uns ein—
dringlich glaubhaft macht.
Das ist in etwa so romantisch, wie die Neuromantiker, das heißt Neu—
Romantiker, werden können, und es ist nur angemessen, daß das technische Instrumentarium dieses Siegs der Symbolik über die rauhe, physische Realität die Mikrophone, Verstärker und elektrischen Gitarren von Rock
and Roll sind.
Eclipse mag eher ein Cyberpunk - als ein waschechter Neuromantiker-Roman sein, weil der »hard science«-Stoff nur am Rande abgehandelt wird, aber die absolut zentrale Thematik von Rock and Roll bis zum Höhepunkt ist charakteristisch für ein Ur-Neuromantisches Empfinden. Denn Rickenharps Triumph am Ende ist ein Kyborg-Triumph, der überhaupt erst möglich wird durch die elektronische Verstärkung seiner fleischlichen Musikalität, was einleuchtend demonstriert, daß Kyborgs, romantische Kyborgs, Neuromantische Kyborgs an sich technische Verstärkung für transzendentale Zwecke nutzten seit dem Tag, an dem Dylan zur elektrischen Gitarre griff.
Was die typische Musik unsrer Zeit angeht, so haben wir alle seit einem
Vierteljahrhundert die Neuromantik als gegeben akzeptiert.
Und Eclipse geht einen Schritt weiter. Rickenharp konsumiert eine Droge, die seine musikalische Kreativität steigert, allerdings nicht ohne kör-perliche Opfer.
Wie ein roter Faden zieht sich durch das ganze Buch die Verknüpfung
von elektronischer Verstärkung und der Wandlung im chemisch aufge—
putschten Menschen, und das führt uns vor Augen, was wir längst wissen:
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daß chemische Bewußtseinsänderung gleichfalls unter Technologie fällt,
daß sie längst unsere ganze Gesellschaft durchdrungen hat und daß es
kein Zufall ist, daß Drogen und Rock so eng verflochten sind. Elektronische Verstärkung und bewußtseinsverändernde Drogen haben bereits die Parameter des menschlichen Sensoriums und damit die Definition von menschlicher Wahrnehmung und Psyche verändert.
Andere Neuromantiker führen die technologische Änderung unsrer Definitionen des Menschlichen viel weiter. Es ist nämlich die Akzeptanz der technologischen Evolution und Änderung unsres Menschenbegriffs, die romantische Akzeptanz der technologischen Wandlung der Spezies, und nicht das tradionelle Mißtrauen dagegen, das letztendlich das Neuromantische Empfinden bestimmt.
Greg Bear, der laut überlegte, was ein gediegener »hard science«-Typ
wie er selbst bei den Cyberpunks auf jenem Forum in Austin verloren hatte, beantwortete sich seine Frage ungewollt selber, als er alle Anwesenden mit dem radikalsten
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