Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
sind es, die sich verändert haben.«
Sophie und Josh gingen die Scott Street in Pacific Heights, einem Stadtviertel von San Francisco, hinunter. Sie steuerten das Haus ihrer Tante Agnes an der Ecke zur Sacramento Street an. Vor sechs Tagen – am Donnerstag, den 31. Mai — hatten sie die Tante zum letzten Mal gesehen und waren von ihrem Haus aus zur Arbeit gegangen, Sophie ins Café und Josh in die Buchhandlung. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen … Der letzte gewöhnliche Tag in ihrem Leben, wie sich herausgestellt hatte.
An diesem Tag hatte sich ihre Welt für immer verändert. 13 Auch sie hatten sich verändert, und zwar physisch wie psychisch.
»Was sagen wir ihr?«, fragte Josh nervös.
Tante Agnes war 84 Jahre alt, und auch wenn die beiden sie Tante nannten, waren sie nicht blutsverwandt mit ihr. Sophie vermutete, Agnes sei vielleicht die Schwester ihrer Großmutter … oder eine Cousine oder auch nur eine Freundin. Sicher wusste sie es nicht. Sie war eine ganz liebe, aber leicht aus der Fassung zu bringende alte Dame, die schon in helle Aufregung geriet, wenn die Zwillinge auch nur fünf Minuten zu spät kamen. Sie trieb die beiden in den Wahnsinn und erstattete ihren Eltern über so gut wie alles, was sie taten, Bericht.
»Nur nichts Kompliziertes«, antwortete Sophie. »Wir bleiben bei der Geschichte, die wir Mom und Dad erzählt haben: Zuerst hat die Buchhandlung geschlossen, weil es Perenelle nicht gut ging, und dann haben die Flamels – «
»Die Flemings «, korrigierte Josh.
» … die Flemings uns eingeladen, ein paar Tage mit ihnen in ihrem Haus in der Wüste zu verbringen.«
»Und warum musste die Buchhandlung schließen?«
»Ein Leck in der Gasleitung.«
Josh nickte. »Ein Leck in der Gasleitung. »Und wo genau ist das Haus in der Wüste?«
»Joshua Tree.«
»Okay, alles klar.«
»Sicher? Du bist ein miserabler Lügner.«
Josh zuckte mit den Schultern. »Ich werde mich anstrengen. Du weißt, dass sie uns ganz schön was husten wird, ja?«
»Ich weiß. Und das ist erst der Anfang. Danach müssen wir auch noch mit Mom und Dad sprechen.«
Wieder nickte Josh. Dann sah er seine Schwester an. Schon seit Tagen hatte er sich heftig Gedanken über etwas gemacht. Jetzt hielt er den Zeitpunkt für günstig, die Sache zur Sprache zu bringen. »Ich habe mir überlegt«, begann er zögernd, »ob wir ihnen nicht einfach die Wahrheit sagen sollten.«
»Die Wahrheit?« An Sophies Miene war nichts abzulesen.
Die Zwillinge überquerten die Jackson Street. Drei Blocks weiter vorn konnten sie schon das weiße, im viktorianischen Stil erbaute Haus der Tante sehen.
»Was hältst du davon?«, fragte Josh nach, als seine Schwester schwieg.
Endlich nickte Sophie. »Klar, könnten wir.« Sie strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihren Bruder an. »Aber du weißt schon, was das heißt, ja? Wir verklickern Mom und Dad, dass ihr gesamtes Lebenswerk für die Katz war. Dass alles, was sie studiert haben – Geschichte, Archäologie und Paläontologie –, so nicht stimmt.« Ihre Augen weiteten sich. »Super Idee. Mach das mal. Ich lass dir gerne den Vortritt und schau es mir an.«
Josh zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Okay, okay, dann sagen wir es ihnen eben nicht.«
»Zumindest jetzt noch nicht.«
»Einverstanden. Aber früher oder später erfahren sie es doch. Du weißt selbst, dass es unmöglich ist, Geheimnisse vor ihnen zu haben. Sie kriegen immer alles raus.«
»Weil Tante Agnes petzt«, murmelte Sophie.
Eine glänzende schwarze Stretchlimousine mit getönten Scheiben fuhr langsam an den Zwillingen vorbei. Der Fahrer hatte sich vorgebeugt und versuchte, durch die Bäume entlang der Straße die Hausnummern zu erkennen. Der Wagen blinkte und hielt ein Stück weiter vorn an.
Josh wies mit dem Kinn darauf. »Komisch. Sieht so aus, als würde er vor Tante Agnes’ Haus halten.«
Sophie blickte in Gedanken versunken auf. »Wenn wir nur mit jemandem reden könnten. Mit jemandem wie Gilgamesch. « Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hoffe, es geht ihm gut.« Als sie den Unsterblichen das letzte Mal gesehen hatte, war er verwundet gewesen. Ein Pfeil des gehörnten Gottes hatte ihn getroffen. Sophie sah ihren Bruder an und stellte ärgerlich fest: »Du hörst mir ja gar nicht zu.«
»Der Wagen hält tatsächlich vor Tante Agnes’ Haus«, stellte Josh leise fest. Seine Kopfhaut kribbelte. War das eine Warnung? »Sophie?«
»Was ist denn?«
»Wann hatte Tante
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