Unverstanden
Martin erklärt sich oder Wie Martin ungewollt zu einer Person des Interesses wurde
Martin Reed war schon vor langer Zeit zu der Einsicht gelangt, dass er in den falschen Körper hineingeboren wurde. Er fragte sich oft, wie anders sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn dieser amorphe Klops, der ihn aus seinem ersten Babyfoto anstierte, auch nur ein Minimum an Potenzial hätte vermuten lassen. Aber nein, so hatte es offenbar nicht sein sollen. Das Bild des kleinen Martin, der sich aufbäumte wie ein geblähter Seehund - die feuchten, rosigen Lippen geöffnet, das Kinn schon damals nahtlos in den Hals übergehend -, war eines, das ihn sein ganzes Leben verfolgen würde. Und am allerschlimmsten waren die Worte »Mamas kleiner Engel« über seinem fahlgrauen, haarlosen Kopf.
Dabei war Martin kein Träumer. Er glaubte zum Beispiel nicht, dass George Clooney schon so bildschön zur Welt gekommen war. Auch der Anblick
Brad Pitts ließ in ihm keine Bitterkeit aufkommen. Er wäre schon zufrieden gewesen mit einem durchschnittlichen Männerkörper, einem, dem er mit seinen vielen Stunden auf dem Total-Gym-Heimtrainer so etwas wie Muskeltonus verleihen könnte und nicht nur eine horizontale Neuschichtung von Speckringen. Sogar Will Ferrells Aussehen hätte ihm schon gereicht. Die grausame Wahrheit war jedoch, dass Martins Körper eher dem Jodie Fosters zu ihren Studentinnenzeiten ähnelte. Fügte man nun noch sein fliehendes Kinn, seine gebogene Nase und seine rundlichen, hängenden Schultern hinzu, wurden die vielfältigen Quellen seines Missvergnügens (und des Missvergnügens vieler Blind-Date-Bekanntschaften) schmerzhaft offenbar.
Sein Leben war genau das erbärmliche Leben, das man von Jodie Fosters entfremdetem, unattraktivem Zwillingsbruder erwarten würde. Da Martin seit sechzehn Jahren als Hauptbuchhalter bei Southern Toilet Supply arbeitete, einem Hersteller und Vertreiber von Reinigungs- und Sanitärbedarf, hatte er sich inzwischen mit dem Kleinstadtleben in Georgia abgefunden, in das er gestoßen worden war. Aus den Rabauken, mit denen er die Highschool besucht hatte, waren die Trottel geworden, mit denen er jetzt zusammenarbeitete. Die Anführerin
der Cheerleader, die seine Aufmerksamkeit damals verschmäht hatte, tat es auch weiterhin, inzwischen jedoch hinter einem Schreibtisch in einem Nachbarbüro. Norton Shaw, die Nemesis seiner Mathestunden, war zu seinem direkten Vorgesetzten befördert worden. Sogar der Wachmann war genau der Kerl, der in den Gängen der Tucker Highschool patrouilliert hatte; man hatte ihn gefeuert, weil er einer der Kantinendamen nachstellte, ein Vergehen, das die Belegschaft von Southern Toilet Supply offensichtlich ziemlich kaltließ.
Wenn man genau darüber nachdachte, war es typisch für Martins Leben, dass sich nie etwas änderte, seit dem Verlassen der Highschool hatte sich nichts ereignet, was eine grundlegende Veränderung seiner Verhältnisse mit sich gebracht hätte. Für Martin erwies sich das Leben allerdings auch nur selten als atypisch. Das Streben nach Normalität war schon immer sein schwer erreichbares Lebensziel gewesen. Er war von durchschnittlicher Größe, durchschnittlicher Intelligenz, durchschnittlichem Gewicht - warum nur wirkte er dann so eklatant unterdurchschnittlich? Zum Glück hatte er andere Dinge, die für ihn sprachen. Einen sicheren Job. Einen fast abbezahlten Toyota Camry. Ein umfassendes Wissen über die Sanitärbedarfsindustrie.
Eines musste man Martin zugutehalten: Er versuchte trotz allem schon fast sein ganzes Leben lang, etwas zu ändern. Als eifriger Leser hatte Martin zuerst in Büchern Hilfe gesucht. Er hatte alle Ratgeber aus der Reihe »Hühnersuppe für die Seele« gelesen. »Die Macht des positiven Denkens« hatte ihn gründlich deprimiert. Zu seinem Entsetzen musste er feststellen, dass er mehr mit den Frauen von der Venus als mit den Männern vom Mars gemeinsam hatte. Der Bestseller »The Secret« erschien etwa zu der Zeit, als ihm eine Reihe von Katastrophen widerfuhren: eine Bindehautentzündung, ein stecken gebliebener Aufzug, das eingeritzte Wort »Schlappschwanz« im Lack seines Autos. Martin hatte es sich, mit einem warmen Waschlappen über dem Auge, mit dem Buch auf dem Sofa bequem gemacht und sehr schnell entdeckt, dass eigentlich alles seine eigene Schuld war.
Martins Mutter war ähnlich unzufrieden mit ihrem Sohn - vielleicht sogar noch mehr. Oft schaute sie ihn über den Frühstückstisch hinweg an (natürlich wohnte er
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