Nie genug (German Edition)
gezeichnet hat, zumindest nicht auf Entfernung. Es ist nicht meine Art, seine Sachen zu durchsuchen, doch jetzt siegt meine Neugier. Ich setze mich auf die Couch und sehe auf das aufgeschlagene Blatt. Es ist eine unvollendete Zeichnung von mir, wie ich mit meinem Laptop ihm gegenüber auf der Couch sitze und arbeite. Das bin unverkennbar ich auf diesem Bild, doch irgendwie erkenne ich mich darin kaum wieder. Es liegt nicht daran, das Sam schlecht zeichnet. Ganz im Gegenteil. Er scheint jedes kleine Detail zu erfassen, und daraus etwas wunderschönes zu machen. Ich schlage die anderen Blätter auf und finde noch mehr Zeichnungen von mir in verschiedenen Positionen. Wie ich ihn beim Kochen beobachte, während ich in meinem Bett schlafe und dabei halb entblößt vor ihm liege, beim Kaffeetrinken an seiner Küchentheke. Selbst das Bild, auf dem ich halb nackt bin, sieht sehr schmeichelhaft aus. Er hat auch die Rundung an meinem Bauch nicht ausgelassen, und es trotzdem geschafft, mich sexy aussehen zu lassen.
Mit einem Schlag wird mir deutlich, dass Sam mich wirklich schön findet. Auf diesen Bildern kann ich mich durch seine Augen sehen. Selbst wenn ich mir fremd bin, zeigt es doch, dass er mir keinen Honig um den Mund schmiert, sondern mir nur ehrlich sagt, was er sieht.
25.
Es geht mir gut. Seit langer Zeit kann ich ehrlich sagen, dass es mir gut geht. Wir sind bei Sams Eltern zum Weihnachtsessen, und ich habe nicht das Gefühl flüchten zu müssen. Es geht mir wirklich gut. Das wiederhole ich nicht so oft, weil ich kurz vor einem Zusammenbruch stehe, sondern weil es stimmt. So einfach. Sam macht mich glücklich. Doch was viel wichtiger ist, ich habe verstanden, dass ich in der Lage bin, Sam glücklich zu machen. Das ist ein erhebendes Gefühl und gibt mir ein ungewohntes Selbstbewusstsein. Natürlich habe ich immer noch meine Momente, in denen ich in alte Muster zurückfalle, aber es wird besser. Sam hat ein gutes Gespür dafür entwickelt, wann sich solche Situationen anbahnen und schafft es jedes Mal, mich hochzuziehen, ehe ich zu tief sinke.
„Möchtest du noch Wein, Emma?“ Sams Mutter Brigitte sieht mich fragend an und hält die Weinflasche in meine Richtung.
„Nein, danke. Ich hatte schon zwei Gläser und muss gleich noch fahren.“
Sam hält ihr dafür sein Glas hin.
„Ehrlich gesagt denke ich, dass keiner von euch beiden heute noch fahren sollte“, bemerkt Sams Vater vom Kopf der Tafel. „Es schneit seit Stunden und ich glaube nicht, dass der Streudienst an Heiligabend besonders fleißig ist.“
Ich bekomme keine Chance, meine Fahrtüchtigkeit zu bezeugen.
„Das sehe ich auch so“, bestärkt ihn Brigitte. „Ihr könnt in Sams altem Zimmer schlafen. Ich habe gestern noch Staub gewischt und das Bett frisch bezogen.“
Sam zuckt mit den Schultern und überlässt die Entscheidung mir.
„Ist das Bett nicht ein wenig schmal für uns beide?“, frage ich.
„Ich komme damit klar.“ Sam nimmt meine Hand und küsst mich grinsend in die Handfläche.
Nach dem Essen ziehen wir uns ins Wohnzimmer zurück. Bernd startet den kleinen Kaminofen, der uns schnell in eine angenehme Wärme hüllt. Brigitte sitzt mit mir auf der Couch, während die Männer irgendein neues Programm an Bernds Computer ausprobieren. Wir beobachten den Schneefall im Garten und wärmen unsere Hände an Bechern voller Glühwein.
„Ich bin froh, dass du es bist, weißt du?“, sagt Brigitte nach einer Weile.
„Dass ich was bin?“, frage ich verdutzt.
„Die Frau, bei der Sam zum ersten Mal „Ich liebe dich“ gesagt hat.“
„Er hat was?“ Die Nachricht muss ich erst mal sacken lassen. Ich weiß, dass Sam über solche Dinge mit seiner Mutter redet, doch das verwundert mich schon.
„Bist du sicher?“, frage ich.
„Absolut. Er hat es mir zwar gesagt, aber es war mir auch so klar.“
„Wir haben nie so detailliert darüber gesprochen, aber ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass es da wenigstens schon mal eine Frau gab.“
„Er hatte Freundinnen, aber das ist dir sicher bewusst. Doch es war nie wirklich ernst. Ehrlich gesagt hat mir das Sorgen gemacht. Er ist schon über dreißig und hatte nie eine ernsthafte Beziehung. Ich weiß, dass mein Sohn nicht den konventionellsten Partner darstellt, aber er ist ein von Grund auf guter Kerl, trotz der harten Schale.“
So hart fand ich Sams Schale nie, trotz der Tattoos und Piercings.
„Das weiß ich schon lange, Brigitte. Du hast einen guten Job gemacht.
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