Die Geisterseherin (German Edition)
Die Akte „Zwilling“
Akt 1
Es war Nacht in der knapp 280.000 Einwohnern umfassenden Stadt Ichihara. Der weiße Mond stand voll und rund über der schwarzen Silhouette der Stadt. Der Kalender zeigte Spätsommer an und noch immer lag die Hitze wie ein dicker Mantel über der Stadt, obwohl die Sonne bereits vor Stunden untergegangen war.
Die Menschen von Ichihara saßen in ihren kleineren oder größeren Wohnungen, ächzten über die Hitze oder lagen direkt neben den im Hochbetrieb laufenden Klimaanlagen. Bei dieser Hitze ging man nur raus, wenn man es wirklich musste. Die Diskos der Stadt waren in jener Nacht geschlossen und auch in den Parks traf man keine Menschenseele.
Nun ja... fast keine Menschenseele.
Zu dieser späten Stunde, die Geisterstunde war schon längst vorbei, konnte man ein seltsames Klirren aus der Richtung des kleines Parks hören, welcher nicht weit entfernt von der Innenstadt lag. Dieser Park, bestehend aus einer großen Wiese, von Bäumen und Hecken eingezäunt und nur von einem kleinen Bach durchbrochen, war Zeuge eines ganz besonderen Schauspieles geworden. „Haa... ah... aha.“
Mikoto's Atem ging heftig, doch ihre Stellung verriet keine Müdigkeit. Sie strich sich eine Strähne ihres schwarzen Haares von der Stirn und packte das große Schwert, dass sie geschultert hatte, fester.
Es war ein seltsamer Anblick für eventuell vorbeikommende Passanten. Doch der Park war leer, niemand sah das schwarzhaarige Mädchen, deren dunkler Kleidungsstil sie auch in größeren Menschenmengen herausstechen lassen würde, und ihr großes Schwert, das aussah, als sei es für sie viel zu schwer und definitiv viel zu groß.
Die Hitze machte Mikoto zu schaffen, ließ das weiße T-Shirt mit der dunkelblauen kreuzförmigen Verzierung über der Brust an ihr kleben. Mit einer flinken Bewegung riss sie sich das Halsband vom Hals, ein schlichtes Lederband mit einem seltsamen metallenem Anhänger, in Form eines „Q“. Unter dem Leder war ihre Haut noch schweißgebadeter, ihr ganzer Körper schien nach Hitze zu schreien. Doch das seltsamste an dieser Szenerie waren die Geräusche, die einem aufmerksamen Zuhörer zu Ohren kommen würden. Das Mädchen sprang im trockenen, bereits halb verdorrtem Gras, hin und her, schwenkte das viel zu große Schwert mit all ihrer Macht, hieb mal hierhin und mal dorthin.
Immer wieder schien sie mitten im Schlag inne zu halten, als wäre ihr Schwert auf einen unsichtbaren Widerstand getroffen.
Außerdem war da auch noch dieses Klirren von Metall, dass immer wieder aus ihrer Richtung drang. Es sah aus, als würde sie sich ein Duell liefern, doch außer ihr war niemand zu sehen.
„Haaaaaaaa!“, schrie sie und vollführte einen scheinbar letzten Schlag und sank danach erschöpft ins Gras.
Ihre Augen wanderten zu dem blassen, fahlen Mond, der hoch über ihr thronte.
Sie lächelte, nur schwach... aber sie lächelte.
Als der nächste Tag anbrach, endlos viele Wecker ihre Besitzer um den wohlverdienten Schlaf brachten, war von der Person im Park schon lange nichts mehr zu sehen. Das Schwert war verschwunden und wer zufälligerweise tatsächlich diesem Mädchen über den Weg laufen würde, sah niemand anderen, als eine ganz normale Schülerin auf dem Weg zur ersten Schulstunde.
Das Mädchen hörte auf den Namen Mikoto... Mikoto Sugisaki und sie ging erst seit wenigen Tagen in die Oberstufe der Ichihara-High. Für gewöhnlich pflegte sie nicht allzu viel Umgang mit ihren Klassenkameraden, kam bei den Jungs ihrer Klasse aufgrund ihrer mysteriös wirkenden Aura allerdings besser an, als ihr selbst lieb war. Aber wer war dieses Mädchen, dass die Nacht damit verbrachte sinnlos Schwerter durch die Luft zu schwingen, statt mit ihren Freundinnen eine schöne und für ihr Alter typische Pyjama-Party zu veranstalten?
Nun... dieses Mädchen hatte ihre Gründe und ihre Geschichte. Setzt euch und lasst mich ihr Buch aufschlagen... lasst mich euch erzählen von dem Mädchen, das man „Die Geisterseherin“ nannte.
Mikoto Sugisaki wuchs im Norden Japans auf, in einer Stadt, welche den wohlklingenden Namen Wakkanai trug. Die Stadt lag in einer Gegend, in welcher der Winter immer wieder kleinere Dörfer vollständig von der Außenwelt abschnitt. Aber in den letzten 4 Jahren war Mikoto's Vater, ein Mann mit dem Namen Yujiro Sugisaki, immer weiter in den Süden gezogen. Insgesamt sechs Umzüge hatte Mikoto inzwischen hinter sich. Von Wakkanai ging es nach Nayoro, dann nach Takikawa, Hakodate, Yuzawa,
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