Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
vieles, nur keine Erfindungen oder Kreationen wie Bohrs Atommodell zustande, dessen Schöpfer sogar wiederholt versucht hat, sich tiefer in wissenschaftliche Wechselspiele »hineinzuträumen« (»drømme mig dybere«), wie er einmal in einem Brief geschrieben hat. Bohr hoffte auf diese Weise ein Gefühl (»føler«) für die Annäherung an die Wahrheit zu bekommen. (Im Internet findet sich seit Kurzem der Hinweis, Bohr habe sein Atommodel mühelos im Traum gefunden; das wird hier bestritten. Wenn bei Bohr von der Tätigkeit des Träumens die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass er sich auf die Gedanken einlässt, die sich in seinem Bewusstsein melden, nachdem er ausführlich über ein Thema nachgedacht hat.)
In diesem Buch wird sogar zu zeigen versucht, was auf den ersten Blick abwegig erscheint, dass nämlich schon die zumeist mathematisch betriebene und entsprechend nüchtern dargestellte Physik der Quanten ihre eigenen romantischen Elemente enthält, selbst wenn sie auf den ersten Blick kalt und in ihrer kalkulierten Exaktheit leblos wirkt. Darüber hinaus ist es aber vor allem die philosophisch
gemeinte Lektion der Atome – die Niels Bohr »Komplementarität« nennt und im Lauf seines Lebens zu lernen versucht –, die ohne die romantische Tradition der europäischen Kultur unverständlich bleiben würde.
Bohr konnte wie kein Zweiter unter den Physikern mit gegensätzlich wirkenden Gedanken umgehen, die dazugehörigen Oppositionen in sich zusammenführen und mit ihnen leben und kreativ werden. Es war Albert Einstein, der diese Fähigkeit aufspürte und für bedeutsam erachtete. In einem Schreiben an die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahr 1922 charakterisierte Einstein seinen großen Gegenspieler wie folgt: »Was an Bohr als Forscher so wunderbar anmutet, das ist eine seltsame Vereinigung von Kühnheit und vorsichtigem Abwägen; selten hat ein Forscher in solchem Maße wie er die Fähigkeit intuitiven Erfassens verborgener Dinge mit scharfer Kritik besessen. Bei aller Kenntnis des Einzelnen ist sein Blick unverrückbar auf das Prinzipielle gerichtet. Er ist zweifellos einer der größten Erfinder unserer Zeit auf dem Gebiete der Wissenschaft.«
Bohr lebte und liebte das Wechselspiel der Widersprüche. Er war geradezu versessen auf Paradoxien und erfreute sich an der Analyse, die sein Verstand dabei mit den möglichen Denkfiguren vornehmen konnte, auch oder gerade wenn er wusste, nie eine Auflösung liefern zu können. Selbstverständlich nahmen er und die anderen Physiker den Begriff »Romantik« ebenso wenig in den Mund wie die späteren Biographen und Historiker, wenn sie ihr jeweiliges Bild von der atomaren Wirklichkeit vorstellten.
Im Hause Bohr
Niels Bohr ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Er kommt im Oktober 1885 als erster Sohn der Familie nach seiner Schwester Jenny (1883–1933) und vor seinem Bruder Harald (1887–1951) zur Welt. Die Eltern sind großzügige und großartige Menschen. Die Mutter, Ellen Adler, wird als liberal und intelligent bezeichnet, wobei die
Tatsache, dass sie Jüdin ist, ihre Kinder zu Mitgliedern dieser Religion werden lässt, ohne dass dies für sie etwas bedeutet. Über Glaubenszugehörigkeit wird in der Familie nicht einmal am Rande gesprochen. Niels bleibt sein Leben lang unberührt von religiösen Gedanken und Gefühlen, und er orientiert sich am Leben seiner Eltern, die nicht kirchlich getraut worden sind und ihren Alltag säkular und sachlich bestreiten. Sein späterer Dialogpartner Einstein hingegen, der ebenfalls aus einem jüdischen Elternhaus stammt, betont immer wieder, dass er sich auch oder gerade als Wissenschaftler von den religiösen Ideen mit den entsprechenden Empfindungen nicht lösen könne.
Ellen Adlers Vater gehörte als Bankier und Politiker zu den wohlhabenden Männern in Dänemark. Die Familie Bohr bewohnte deshalb anfangs in Kopenhagen ein schönes Haus in der Ved Stranden 14, das zu den eleganten Gebäuden der Stadt zählte und dem Sitz des dänischen Parlaments gegenüberlag. Die Kinder wuchsen also unter bevorzugten Umständen auf, und zu ihrer behüteten Kindheit gehörten stets auch Kindermädchen und Dienstpersonal – sie genossen einen Lebensstandard, der vor der Industriellen Revolution und dem damit zusammenhängenden Wirtschaftswachstum undenkbar gewesen wäre.
Vater Christian arbeitete als Wissenschaftler auf dem Gebiet der Physiologie, bei dem es darum geht, die Lebensfunktionen des menschlichen Körpers
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