Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
1. KAPITEL
Wie Schorf aus Asphalt lag die Stadt über dem Sand ausgebreitet, ohne wirkliche Verankerung. Nur das Gewicht der Häuser und die Füße der Menschen schienen sie an ihrem Platz zu halten. Überall drohte die Natur sich den verlorenen Grund wieder zurückzuholen. Vom Stadtrand her, vom Strand im Norden und durch unzählige Risse im Asphalt blies Sand heran. Manchmal wehte er in rotgelben Stürmen von Süden heran und drang überall ein, auch durch noch so kleine Häuserritzen. Selbst vor den Mündern der Kinder machte er nicht halt.
Alles hier schien provisorisch zu sein. Die Häuser waren in Windeseile errichtet worden. Die Straßen besaßen etwas Vorläufiges. Die Menschen waren auf dem Sprung, obwohl es kein Entkommen gab. Nichts ließ darauf schließen, dass die Stadt bereits seit 3400 Jahren existierte und dass ihre heutige Bevölkerung sie nur wenige hundert Jahre später eingenommen hatte und seither dort geblieben war.
Am provisorischsten wirkte Mokha’am Al-Shatea, das Strandlager, obwohl dieser Platz seit über fünfzig Jahren Männer und Frauen mit ihren Kindern und Enkeln beherbergte. Die meisten, die dort lebten, sahen ein, dass das Provisorische in Wirklichkeit beständig war. Niemals würden Ahmed, Hussein, Samira, Fatima oder ihre Brüder und Schwestern, Stammesverwandten und Nachbarn einschließlich Cousins, Neffen, Nichten und andere Angehörige in unüberschaubaren verwandtschaftlichen Verzweigungen das Glück haben, auf den Hügeln von Haifa, in den Tälern Galiläas oder in den Gärten Askalons zu wandern. Die Schlüssel und die verblichenen Einträge im Grundbuch, die zu ihren Häusern gehörten, die sie übernommen hatten oder die heruntergekommen waren, würden mit ihnen in der sandigen Erde Gazas begraben werden.
Fariz erwachte früh. Er hatte seiner Mutter versprochen, heute zur Schule zu gehen. Vorher würde er noch seine kleine Schwester und seine beiden jüngeren Brüder zu ihrer Schule am Ende der Gasse begleiten. Er lag im Bett und starrte an die Decke. Neben ihm stöhnte sein älterer Bruder im Schlaf und wedelte mit der Hand unsichtbare Fliegen weg. Der Bruder, der weder sprechen noch verstehen konnte und der mit dem Löffel gefüttert werden musste. Wenn der Vater einmal alt und schwach war, dann würde Fariz das Familienoberhaupt sein.
Er hatte jeden Tag dasselbe versprochen. Jeden Tag hatte er das Versprechen gehalten und dann gebrochen. Er war dorthin gegangen, wo er hatte hingehen sollen, war aber dann, sobald sich die Gelegenheit ergeben hatte, wieder von dort weggeschlichen. Er hörte ihre Ermahnungen, beachtete sie aber nicht. Auch an diesem Tag würde es nicht anders sein.
Als er seinen Humus mit Brot aß und brackig schmeckenden Tee dazu trank, ermahnte und beschimpfte ihn seine Mutter erneut. Er saß schweigend da, bis sie ihm ein neues Versprechen abverlangte. »Aiwa« ,antwortete er, da das das Einzige war, womit sie sich zufrieden gab.
An der Mauer, die seine Schule umgab, hingen bereits drei Plakate mit Gesichtern. Am meisten bewunderte er den ältesten Jungen, Hamed, der siebzehn Jahre alt wurde und einen solchen Mut bewiesen hatte. Hamed hatte Fariz und drei weiteren Klassenkameraden erzählt, dass sein ältester Bruder beim letzten Mal getötet worden war. Er sei damals erst acht gewesen, könne sich aber noch gut an den blutigen Pullover seines Bruders erinnern. Er erzählte von den Versammlungen, denen er als Zuhörer hatte beiwohnen dürfen. Jetzt sei endlich er an der Reihe.
Ehe er die Schule betrat, blieb Fariz an der Mauer stehen und sah Hamed an. Sein Gesicht war auf einem grünen Plakat mit der Al-Aksa-Moschee im Hintergrund verewigt.
Die Unterrichtsstunden schlichen dahin, und Fariz hatte Mühe zuzuhören. Erst als der Lehrer die Schüler bat aufzupassen, weil der Präsident einen Beschluss gefasst habe, der insbesondere sie betreffe, wachte er auf. »Niemand unter fünfzehn Jahren darf an den Streitigkeiten teilnehmen«, sagte der Lehrer. »Die Komitees werden aufgefordert, alle Kinder abzuweisen.«
»Abweisen? Wie denn?«, fragte Fariz, noch bevor er es sich recht überlegt hatte.
»Dieser Beschluss gilt auch für dich, Fariz«, antwortete der Lehrer. »Deine Mutter hat mit mir gesprochen. Du weißt, dass du ihr gehorchen musst. Nach dem Unterricht müsst ihr alle nach Hause gehen.«
»Ich bin kein Kind, ich bin vierzehn«, protestierte Fariz.
»Du hast den Beschluss des Präsidenten vernommen«, sagte der Lehrer. »Du musst
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