Nizza - mon amour (German Edition)
mehr zur Raserei – Autos, Motorräder, Flugzeuge, Eisenbahn, Straßenbahn, Diskotheken: Lärm jeder Art vergiftet das Leben der Bevölkerung von Nizza.«
Zwei weitere Warnungen sollen nicht ausgespart bleiben. Die eine gilt dem vielgepriesenen und zur Touristenwerbung gehörenden Blumenmarkt, der fast nur holländisches Gestrüpp feilbietet, soeben zerknautscht in Pappkartons eingeflogen: abgeknickte Gerbera oder zusammengepreßte Tulpen, die Schönheiten der Provence bis auf wenige Ausnahmen – mal ein Zitronenbäumchen, mal ein Calla-Töpfchen – wie ausgemustert. Dafür wird jedes Alpenveilchen, bekanntlich eine besonders exotische Blume, endlos fotografiert – von jenen Opfern einer Gaukelindustrie in ihrer »schleichenden Filzsockenbegeisterung«, wie das der konsternierte Nietzsche damals schon nannte, als es noch keine Reisebusse mit Klo und Fernseher gab. Und hier kommt die zweite Warnung: vor jenem »Vieux Nice«, in dessen einst so pittoreske enge Gassen diese Ausgewrungenen mit ihren Sandalen, Rucksäcken, Kameras und teenager-flammenden Blusen herdenweise hineingepreßt werden: La Promenade de Kitsch. Die touristenkäschernde Häßlichkeit, der Betrug an den Unglücklichen aus Budapest oder Düsseldorf, ausgespien aus den Kreuzfahrtschiffen in Horden, ist geradezu beleidigend: Plüschfrösche als Klopapierhalter, »Kunst aus Tahiti«, Michelangelos »David« in Seife gehauen, Ölbilder – so scheußlich, daß man Bindehautentzündung bekommt beim Hinsehen: ein Graus. Die winzigen Läden mit handgezogenen Nudeln oder die Werkstätten, in denen ein alter Mann noch liebevoll Bücher per Hand in Leder bindet, verstecken sich verschreckt.
Dabei bietet Nizza dem mußevollen Flaneur so unendlich viel Schönes, jene »Verzückungsspitze der Welt«, um noch einmal Nietzsche zu zitieren, an den durch eine Inschrift an seinem Wohnhaus in der Nähe des Hafens erinnert wird. Nietzsche, der Sprachkünstler und Emphatiker, hat bekanntlich in einem Brief an seine Schwester bedauert, daß er Nizzas Farben nicht für sie pflücken, ihr kein Bild schicken kann von der durchsichtig erscheinenden, wie durch ein Silbersieb gegangenen Pracht. Noch im Jahr 2008 hat die in Nizza geborene französische Schriftstellerin Véronique Olmi in ihrem Roman »Die Promenade« diesem Lichtwunder Tribut gezollt: »Morgens ist Nizza zu klein für die Sonne. Das Licht breitet sich überall aus, es kommt vom Himmel herunter und legt sich auf die Dächer, die Straßen, das Meer, die Hügel, es streckt seine Tentakel aus wie eine kochend heiße Krake, und dann zieht es sich zusammen, verdichtet sich, unmöglich, ihm zu entgehen, und den ganzen Tag werden die Leute über nichts anderes reden.«
Selbst das etwas oberhalb gelegene »Quartier Nice Nord« mit seinem Gespinst aus Dichter-Straßen, wie Avenue Chateaubriand, Rue George Sand, Rue Baudelaire, und einer kleinen Parkanlage, in der alte Damen ihre Hündchen spazierenführen und alte Herren auf Bänken die Weltprobleme lösen, läßt noch an Tucholskys Dank-Gedicht an Paris aus dem Jahre 1924 denken:
Parc Monceau
Hier ist es hübsch. Hier kann ich ruhig träumen.
Hier bin ich Mensch – und nicht nur Zivilist.
Hier darf ich links gehen. Unter grünen Bäumen
sagt keine Tafel, was verboten ist.
[…]
Die Kinder lärmen auf den bunten Steinen.
Die Sonne scheint und glitzert auf ein Haus.
Ich sitze still und lasse mich bescheinen
und ruh von meinem Vaterlande aus.
Trotz der vielen verschandelnden Nützlichkeitsbauten finden sich hier wie im benachbarten Cimiez noch langsam verfallende, aber oft sorgsam renovierte alte Villen hinter kunstvoll ziselierten Eisengittern, gebettet in Palmen-und Kakteengärten. Cimiez war wohl von alters her das vornehmere Viertel über der Stadt, das zeigen die herrschaftlichen stuckverzierten Gebäude der Belle Époque, alles überragend das »Palais Victoria«, ein enormer, aber wohlproportionierter Kasten (heute aufgeteilt in Eigentumswohnungen), den sich einst Queen Victoria als Winterresidenz errichten ließ. Matisse wohnte und arbeitete hier, man kann ihm gleichsam posthum ins Fenster schauen vom unweit in einem prächtigen Park gelegenen Museum, das zwar seinen Namen trägt, dessen Bestände aber eher enttäuschend sind. Dem Meister begegnet man noch oft, nicht zuletzt – oder eben doch »zuletzt« – auf dem Friedhof von Cimiez, auf dem, versteckt und in seiner Einfachheit tief berührend, sein Grab liegt. Hier ist auch Raoul Dufy
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