Noch lange danach
wirst du ihn nicht mehr sehen können.“
Heute, als ich ihn besucht und „Hallo, Ronny“ zu ihm gesagt hab, bin ich über mich selber erschrocken: Wie sehr hab ich mich schon mit seinem baldigen Tod abgefunden!
Da ist mir etwas eingefallen, was Omi mal gesagt hat: „Der Mensch ist unglaublich anpassungsfähig. Er gewöhnt sich an alles, auch an den Tod.“
Ihr nicht? Das kommt, weil ihr ihm nicht so nahe seid wie wir. Wir müssen jeden Tag damit rechnen, krank zu werden. Bei jeder lächerlichen Erkältung, jeder Magengrippe denken wir erschrocken: Es wird doch nicht etwa was Ernstes sein? Oder ist es jetzt so weit?
Früher hat man Kranksein und Sterben ganz anders bewertet als jetzt. Das hab ich in den Büchern entdeckt, die davor geschrieben worden sind. Die werden noch immer gelesen – und von vielen lieber als die Danach -Bücher. Schöne heile Welt, in der es Spaß gemacht hat zu leben! Eine Welt mit tausend Chancen für Happy Ends!
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Wo Ronny wohnt? Dort, wo die meisten Schüler dieser Schule wohnen.
Da müsst ihr aufstehen und euch umdrehen. Dort drüben sind die Bauten mit den Behelfswohnungen. Der Fußballplatz dazwischen ist neu. Bis vor Kurzem war er noch ein städtisches Grundstück, voller Gestrüpp und Gras, das nie gemäht wurde. Die Jugendlichen des Viertels haben so lange Druck gemacht, bis es die Stadt zum Fußballspielen hergerichtet hat.
Gewiss: ein Grund, sich zu freuen. Für die Jungen ein Anlass für Triumphgefühle. Allerdings ist da manches erst mal schiefgelaufen. Stacheldraht rund um das Grundstück? Das war natürlich für unsere Leute eine Provokation. Aber die eingeschlagenen Scheiben im Rathaus hätten auch nicht sein müssen. Inzwischen vertragen wir uns wieder, die von der Stadtverwaltung und wir Schüler.
Die Schulgeschichte? Früher war hier nur eine kleine Grund- und Hauptschule für die Kinder dieses Außenbezirks. Die ist nach dem Zuzug der vielen Evakuierten in ein Schulzentrum umgewandelt worden. Davor sind die wenigen Gymnasiasten aus diesem Viertel mit Bus oder Straßenbahn zu ihren Schulen in der Innenstadt gefahren. Jetzt können Schüler ab dem 5. Schuljahr bis zum Abi hier im Viertel bleiben. In dieser Schule.
Ja, sicher, das gibt vielen von uns mehr Chancen. Denn manche wären nicht auf eine Schule in der Stadt gegangen, auch wenn sie das Zeug dazu gehabt hätten. Sie wären ab dem Ende ihrer Schulpflicht hier draußen in unserem Viertel unter denen geblieben, mit denen sie befreundet waren. Unter denen sie sich wohlfühlten.
Unsere Lehrer? Die meisten von ihnen sind in Ordnung. Aber da gibt es ein anderes Problem: Manche Lehrer möchten nicht an unsere Schule. Dieses Viertel hat einen ziemlich schlechten Ruf. Es ist ein sozialer Brennpunkt, weil es hier so viele Arme gibt. Natürlich passiert da manches.
Auch allerlei Kriminelles.
Manche jungen Leute wollen nicht arm sein. Sie ziehen das Risiko vor, bei einer Klauerei oder einem Einbruch erwischt zu werden. Und manche Väter oder Mütter werden kriminell, weil sie vermeiden wollen, dass ihre Familie in Not gerät. Wie Ronnys Vater.
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Die Evakuierung 2020? Dieses Thema hängt hier vielen schon zum Hals raus.
Man merkt, dass ihr aus Südamerika kommt.
Aber bitte – wenn ihr das hören wollt?
In einem Radius von 35 Kilometern rund um das Atomkraftwerk wurde alles geräumt. Hals über Kopf. Die Leute, egal, ob sie Läden oder Werkstätten im Haus hatten oder eine Landwirtschaft betrieben, mussten von einer Stunde zur anderen fort. Die Polizei durchsuchte jeden Dachboden, jeden Keller, ja jeden Kleiderschrank nach Menschen, die sich sträubten, alles, was ihnen gehörte und was sie sich mühsam zusammengespart hatten, zurückzulassen.
Ich habe die Geschichte von der Evakuierung so oft gehört, dass ich schon manchmal geglaubt habe, ich sei selber dabei gewesen.
Zwischen dem Super-GAU und meiner Geburt? Über 24 Jahre!
Es muss schrecklich zugegangen sein. Die Leute jammerten und bettelten, dies und das wurde noch schnell herausgekramt und eingepackt, Haustiere ließen sich nicht rasch genug fangen, Babys plärrten. Schrilles Geschrei ertönte: „Lasst mich hier! – Wer kümmert sich denn sonst um die Gräber?“ Oder: „Jonas! – Jonas! Verdammt, wo ist der Bengel nur?“ Oder: „Was mach ich bloß? Ich kann den Tim nicht erreichen, Mama! Wo wir doch für den Samstag schon einen festen Termin auf dem Standesamt haben …“
Aber auch allerlei Banales war zu hören: „Vergiss nicht deine
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