Noch lange danach
Eltern mich wegen meiner Noten strafen würden, wäre das kein Grund für mich, mein Leben zu ändern. Ich bemühe mich nicht um Wissen, das mich nicht neugierig macht. Aber ich verbeiße mich in Themen, die ich wichtig finde. Zum Beispiel, wie meine Zukunft aussehen wird.
Na ja, wenn es euch interessiert? Unter anderem treibt es mich um, was ich nach der Schule machen werde. Ich habe kein Geld und werde auch nichts erben – außer dem Haus, das mal Omi und Opa gehört hat. Das gibt es noch. Allerdings steht es in der Sperrzone. Niemand darf dort leben, dort ist alles verstrahlt. Deshalb würde es auch niemand kaufen wollen. Papa schickt uns zwar ab und zu Geld – aber nie viel. Zum Leben haben wir nicht mehr als Mamas lächerliche Notrente.
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Ja. Krank. Seit Jahren.
Na ja, eben Depressionen. Meistens liegt sie den ganzen Tag auf dem Sofa, dämmert mit geschlossenen Augen vor sich hin oder starrt gegen die Wand. Zum Baden muss ich sie erst überreden. Es kostet manchmal Stunden, bis ich sie in der Dunnemals habe!
In der alten Badewanne. Die hat große Rostflecken. Omi nannte das Ding mal „Anno-dunnemals-Luxus-Bassin“. Seitdem heißt die Badewanne bei uns „die Dunnemals“.
Das ist schwer zu übersetzen. „Dunnemals“ ist so viel wie „dazumal“.
Das versteht ihr auch nicht? Stimmt: Das Wort ist etwas altmodisch. Ihr könnt es mit „vor langer Zeit“ übersetzen.
Eine neue Badewanne kostet viel Geld. Die können wir uns nicht leisten. Wir sind froh, dass wir überhaupt eine haben. Denn in der Wohnung, in der wir vorher gewohnt haben, war nur eine Dusche. Wie überall in den Behelfswohnungen, die danach vom Staat gebaut wurden. Weil Duschen billiger sind. Und auch, weil mit dem Wasser gespart werden muss.
Nach dem Bad? Da rubble ich sie ab und helfe ihr beim Anziehen. Aber wenn sie allein ist, kann’s bei schönem Wetter schon mal passieren, dass sie nur mit umgewickeltem Badetuch durch die Hintertür hinausgeht, dann das Tuch abwirft und sich mit ausgebreiteten Armen und geschlossenen Augen in die Sonne stellt. Das habe ich von einer Nachbarin erfahren, die auf dem Weg hinter dem Gartengestrüpp vorbeigegangen ist und herübergeschaut hat. An einem ungewöhnlich warmen Tag ist das gewesen. In der Kirschblütenzeit. Da war noch kaum Laub an den Bäumen. Im Sommer kann man Mama vom Weg aus nicht mehr sehen.
Manchmal geht es ihr nach dem Baden besser. Oft kann ich dann auch mit ihr reden. Nur nicht über etwas Trauriges. Denn dann schließt sie die Augen und verstummt. Meistens erzähle ich ihr Unwichtiges aus der Schule.
Nein, sie trinkt keinen Alkohol.
Drogen? Auch nicht.
Sie schafft das Leben nicht. Dieses Leben danach . Ich hab immer Angst, dass sie sich was antut. Oder es zumindest versucht. Deshalb sind meine Gedanken meistens bei ihr daheim, wenn ich in der Schule bin. Und wenn ich von der Schule heimkomme, hole ich immer erst tief Luft, bevor ich die Wohnzimmertür leise öffne.
Nein, keine. Ich hatte allerdings einen um knapp zwei Jahre älteren Bruder. Habe ich ihn nicht schon erwähnt? Er ist tot zur Welt gekommen. Er war … stark missgebildet.
Ich möchte das nicht beschreiben. Nur so viel: Er war nicht lebensfähig.
Ich denke nicht oft an ihn. Ich habe ihn ja nicht gekannt. Was ich über ihn weiß, habe ich von Omi. Meine Mutter spricht niemals darüber.
Ja. Mamas einziges Kind.
Natürlich ist es schlimm für mich, so eine Mutter zu haben. Um die ich fast immer Angst haben muss. Aber ich habe sie lieb! Ich bin glücklich, wenn sie sich von mir helfen lässt. An den seltenen Tagen, an denen sie mal aufsteht, muss ich an mich halten, um nicht zu jubeln!
Nur: Wie kann ich einen Beruf erlernen oder studieren, ohne sie im Stich zu lassen? Der Sinn meines Lebens kann doch nicht nur die Pflege meiner Mutter sein? Ich träume davon, mich für eine große Idee zu engagieren! Aber wie kann ich das tun, ohne Mama zu vernachlässigen?
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Ja, ich denke viel nach, wenn ich Zeit dazu finde. Omi hat mich zum Nachdenken gebracht. Sie hat mir vieles erklärt, was vor meiner Zeit passierte. Und auch vieles, was schon vor ihrer Zeit geschah. Und wir haben uns über manches Gedanken gemacht: über die Nazizeit. Über die „Achtundsechziger“. Über die „Anti-Atom-Bewegung“ in den Siebzigern und die „Friedensbewegung“ in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts. Über die heftigen Demonstrationen der Bevölkerung gegen die Atommülltransporte und rund um die Orte, wo der
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