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Nur Ein Toter Mehr

Nur Ein Toter Mehr

Titel: Nur Ein Toter Mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ramiro Pinilla
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schon schweigend zu Boden. Bidane hatte sich so entschieden, um den tiefen Schmerz über den Verlust des Geliebten irgendwie zu verwinden: Ein Urteil über sie stand uns wirklich nicht zu.
    »Es waren diese sechs Stunden, die zwischen unseren Küssen in der Küche und meinem Schreckensschrei lagen«, fuhr Bidane schließlich leise fort, »in diesen sechs Stunden war mir Eladio so nah gewesen wie nie zuvor, obwohl ich Leonardo geküsst hatte, und dieses Gefühl der Verbundenheit und des grenzenlosen Glücks wollte ich nie wieder hergeben, niemals! In diesen sechs Stunden schloss ich die Augen vor der Realität. Ich bin mir sicher, dass der Allmächtige mir diese Stunden geschenkt hat, um mir Eladios Verlust erträglich zu machen, und ihm verdanke ich auch die folgenden acht Jahre ohne Trauer und Leid.«
    Wieder breitete sich Stille aus.
    »Acht Jahre?«, fragte Koldobike schließlich leise.
    Ja, acht Jahre, die Illusion hielt nicht zehn, sondern nur acht.
    »Vor etwa zwei Jahren kam es ans Licht, dass ich Bescheid wusste, dass ich wusste, was tatsächlich in jener Nacht am Strand geschehen war. ›Was wirst du jetzt tun?‹, fragte er mich. ›Wirst du mit der Geschichte zur Polizei gehen?‹ Ich versicherte ihm, dass ich nichts dergleichen tun würde, und er glaubte mir, denn die Monate vergingen, und ich hielt den Mund. Warum sollte ich ihn auch verraten, ich hatte von Anfang an geschwiegen. Doch dann erschienst du, Samuel Esparta, und mit Leonardos Ruhe war es vorbei.«
    »Aber wie kam er dahinter, dass du alles wusstest?«, fragte Koldobike.
    »Eines Abends rief ich ihn, weil er mir irgendwas vom Dachboden holen sollte, doch er reagierte nicht darauf, sodass ich ihn danach völlig gedankenlos an beiden Ohren packte, sie lang zog und dabei brüllte, er solle mal wieder gehörig mit den Ohren wackeln, da er anscheinend jede Menge Bohnen drin hätte. Wenn Blicke töten könnten, sage ich euch! Doch ich hielt ihm stand, und
mein
Blick sagte ihm dann mehr als tausend Worte. Auf so bescheuerte Weise erfuhr er, dass ich Bescheid wusste … Und als du, Samuel Esparta, dann das Ganze schonungslos aufzudecken begannst, wurde er nervös, stahl die Kette und versteckte sie unter dem alten Sessel, und wer weiß, ob er mich damit nicht ebenfalls an Apraiz’ Felsen ketten und umbringen wollte, war ich doch der einzige Mensch auf der Welt, der sein schreckliches Geheimnis kannte und dich auf die richtige Spur bringen konnte. Irgendwie hätte er mich in allernächster Zeit jedenfalls aus dem Weg geräumt, da bin ich mir sicher.«
    Da konnte ich mich nicht mehr länger zurückhalten: Es brach aus mir heraus, dass das doch alles sicher von ihr oder irgendeinem Möchtegernautor erfunden sei.
    »Erfunden?« Bidane schüttelte vehement den Kopf. »Ihr kennt doch das Sprichwort: Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen. Wenn aber ein Mann sich Nacht für Nacht stöhnend hin und her wälzt und eine Ehefrau ihn im Schlaf reden hört … Irgendwann hatte ich keine andere Wahl mehr, als mir zu überlegen, wie ich die Wahrheit ans Licht bringen könnte. Und so wurde ich zu einer Gefahr für ihn. Diese Rolle war für mich allerdings eine einzige Qual. Mal wollte ich alles verraten, mal wieder nicht. Ich wollte, dass seine Schandtat herauskommt, er aber nicht erfährt, wer ihn ans Messer geliefert hat. Darum habe ich euch zu Hilfe geholt.« Sie seufzte tief. »Zum Glück ist der Albtraum jetzt vorbei.«
    Als könnte sie meine Gedanken lesen, stand Koldobike auf und reichte Bidane zum Abschied voller Mitgefühl die Hand.
    Ein paar Schritte hatten wir uns schon von dem Hof entfernt, als sie uns noch etwas hinterherrief:
    »Trotz allem hat er mich geliebt! So sehr, dass er für mich sogar seinen Zwillingsbruder getötet hat!«
    Doch wir drehten uns nicht mehr um.
     
    Als ich die letzte Seite aus meiner Underwood ziehe, kommt Koldobike zu mir und drückt mir wortlos eine kleine Schachtel in die Hand. Neugierig öffne ich sie – und strahle augenblicklich übers ganze Gesicht. Endlich, meine Visitenkarten:

    Andächtig nehme ich eine heraus, und während ich sie gedankenverloren betrachte, ist mir, als höre ich die spöttische Stimme meiner Sekretärin:
    »Soll ich dir was sagen, Sam? Du …«
    Alles Weitere bekomme ich nicht mehr mit, denn ich bin mit meinen Gedanken bereits bei neuen, ungeahnten Abenteuern, zu denen mich diese Visitenkarte bestimmt führen wird.

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