Caruso singt nicht mehr
PAUL BREMER
1
Man konnte zusehen, wie die braune, zähe Suppe näher gekrochen kam. Zweige und Zigarettenschachteln wälzte sie mit sich, eine zerdrückte Bierdose, blaue Plastikfetzen. Bremer zuckte zusammen, als er den kleinen schwarzen Katzenkörper sah, der sich am Rande der stinkenden Brühe näher schob. Schon wieder eine. Er schüttelte sich. Nasser Wind blies ihm ins Gesicht, und das Wasser stieg noch immer.
»Du siehst doch, das erledigt sich von ganz allein!« würde Marianne sagen, wenn er ihr von der Katzenleiche erzählte. Er hatte seiner Nachbarin noch vor einer Woche vorgeschlagen, wenigstens ihre Kater kastrieren zu lassen – damit in Zukunft ein paar weniger Tiere in seinem Garten Vögel jagten und Gemüsebeete verwüsteten und morgens und abends darauf lauerten, daß er die tägliche Dose Katzenfutter öffnete. Aber eine sparsame Landfrau setzte nicht auf den Tierarzt, sondern auf Schicksal und Natur. Womit sie recht hatte: Der Katzensegen erledigte sich wirklich von ganz allein – unter tätiger Mithilfe von Traktoren, Greifvögeln, Katzenschnupfen und gelegentlichem Hochwasser.
Nur sentimentale Städter investieren langfristige Gefühle in kurzlebige Kreaturen, sagte sich Paul Bremer resigniert und watete in seinen Gummistiefeln durchs Wasser. Bis zum Friedhofsweg, der auf der Höhe seines Hauses von der Dorfstraße abzweigte und leicht anstieg, war die Brühe noch nicht vorgedrungen. Über ihm schwang leise krächzend die Leuchtstoffröhre, die zwischen seinem und Erwins Haus über der Straße hing. Er ging den Weg hoch, an den letzten fünf Fachwerkhäusern vor dem Dorfende vorbei, bis kurz vor die Friedhofskapelle. Der Regen ließ nach. Der Wind war abgeebbt. Durch die Wohnzimmerfenster seiner Nachbarn sah er bläulich die Tagesschau flackern.
Von hier oben aus hatte man den besten Blick auf Bremers Haus. Und auf die braune Schlammzunge, die sich langsam die Dorfstraße heranschob und bereits auf der Höhe seines Gartentors angelangt war. Noch war, wie Bremer feststellte, nichts entschieden.
Er fühlte sich unnütz. Denn tun konnte er rein gar nichts. Das Hochwasser kam – oder es kam nicht. Kein anderer der gleichmütigen Nachbarn ließ sich bei diesem Sauwetter hier draußen blicken. Gegen sechs war Erwin kurz aus dem Haus getreten, um zu gucken, wie weit das Wasser schon gekommen war, hatte eine tiefen Zug aus der Zigarette genommen, gehustet, ausgespuckt und »Wird schon werden!« gemurmelt. Seither saß er vor dem Fernseher, wie alle anderen auch.
Die alljährliche Überschwemmung mußte man hinnehmen. Das Wasser kam – und ging. Es würde in die Keller laufen – oder nicht. Und wenn, dann würde man es herauspumpen und die Fenster öffnen, zum Lüften. Und auf die Bürokraten und anderen Idioten in der Kreisverwaltung schimpfen, wo man seit dreißig Jahren der Meinung war, ein Dorf von zwölf Häusern und Höfen müsse damit leben, daß alle Jahre wieder im Frühjahr und im Herbst das Wasser aus den drei Bächen in die Auwiesen floß, über die Hauptstraße bis ins Dorf, in die Keller und Scheunen.
Dieses Jahr kam das Hochwasser besonders früh. Nach einem verregneten Sommer, an dessen Ende das Grundwasser außergewöhnlich hoch stand, hatten schon fünf Tage Dauerregen gereicht, um die Auwiesen unter Wasser zu setzen und die Landstraße zu überspülen. Bremer schob die Kapuze zurück und blickte prüfend nach oben. Es regnete nicht mehr. Aber das Wasser stieg weiter. Noch immer war nichts entschieden. Er schlurfte mißmutig zurück auf die Dorfstraße und sah dem trägen, braunen Wirbel zu, der sich über dem Gully vor seinem Haus gebildet hatte. Ein Wunder, daß der Kanal überhaupt noch Wasser fassen konnte.
Um seinen Keller fürchtete Paul Bremer nicht. Sein Haus hatte gar keinen Keller. Was von der stinkenden Suppe in sein Fachwerkhäuschen eindrang, indem es sich unter der Haustür hindurchschlängelte, würde sich als erstes im Flur und als nächstes in Küche und Wohnzimmer breitmachen. Bremer fand die Vorstellung rührend, daß hier, im kleinen Kaminraum zur Straße heraus, Marianne und Willi geheiratet hatten – vor einem Vierteljahrhundert, vor der Gebietsreform, als das Dorf noch einen eigenen Bürgermeister hatte. Paul wohnte in der ehemaligen Bürgermeisterei. Das sah man, fand er, seiner Hütte wirklich nicht an.
Die braune Suppe stand noch etwa zehn Zentimeter unter dem Niveau seiner Türschwelle. War sie erstmal im Haus, konnte Paul die drei Wochen Arbeit
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