Optimum - Kalte Spuren
Tatsache, dass es ziemlich dämlich war, bei Wind und Wetter in den Schnee hinaus zu laufen, nur um nach Handyempfang zu suchen. Sie hätte auf Eliza hören und morgen früh die Verbindung testen sollen. Doch jetzt konnte sie auch nicht mehr einfach so zurück, ohne vor Robin und Nathan das Gesicht zu verlieren. Also stapfte sie weiter bergan, bis der Felsenfinger riesenhaft ihr Gesichtsfeld ausfüllte. Rica atmete erleichtert auf und machte sich daran, ihn zu umrunden, um auf der anderen Seite ein letztes Mal den Empfang zu testen. Da stieß sie auf die Spur.
Wie erstarrt blieb Rica stehen. Eine Fußspur, eindeutig die eines Menschen in schweren Stiefeln, kreuzte ihren Weg, führte vom Felsen schräg den Hang hinunter. Sie war frisch, es war noch kaum Neuschnee darauf gefallen. Außerdem war da das Blut.
Schneewittchen, dachte Rica völlig unangemessen und musste ein hysterisches Kichern unterdrücken. Reiß dich zusammen!
»Was ist? Hast du jetzt Empfang, oder … oh.« Robin, der ein Stück hinter ihr gewesen war, hatte Rica eingeholt und blieb an ihrer Seite stehen, als er das Blut sah.
»Kein Psychopath, sagst du?«, flüsterte Rica, als Nathan ebenfalls an ihre Seite trat. »Und wie erklärst du dir das?« Sie zeigte auf die Kette von winzigen roten Pünktchen, die neben der Fußspur entlangführten. Kleine, rote Blutstropfen, da war Rica sich sicher. Ungebeten stieg ein Bild vor ihrem inneren Auge auf: Jo in einem Meer von Blut und Rosenblüten. Sie schüttelte es ab.
»Das ist bestimmt nur ein Jäger gewesen, der hier irgendein Tier gejagt hat«, meinte Nathan beruhigend, aber seine Stimme klang gerade ein wenig zu unsicher, um Rica zu überzeugen.
»Mitten im Schneesturm? Um diese Uhrzeit?« Robin versuchte, spöttisch zu klingen, doch auch seine Stimme zitterte ein wenig. »Komischer Jäger.«
»Das ist viel zu wenig Blut für einen Menschen«, widersprach Nathan.
»Vielleicht hat sie das meiste Blut irgendwo anders verloren«, flüsterte Rica.
»Woher willst du wissen, dass es eine ›sie‹ ist?« Nathan gab so schnell nicht auf. Er griff nach Ricas linker Hand, umfasste ihre Finger mit seinen und ließ nicht mehr los. Ricas rasender Herzschlag beruhigte sich ein wenig.
»Wir sollten hier verschwinden«, murmelte sie. »Scheiß auf den Handyempfang.« Sie drehte sich um und wollte den Hang wieder hinunterlaufen, als sie ihn sah.
Ein Mann stand zwischen den Bäumen. In dem dämmrigen Licht waren lediglich seine Umrisse zu erkennen, dunkel vor hell, seltsam massig durch eine dicke Daunenjacke, Handschuhe und eine Mütze. Aber das Messer in seiner Rechten konnte Rica gut erkennen. Es glitzerte im Mondlicht.
Sie rannte los.
Kapitel sechs
Fragen
Schnee stob unter ihren Füßen weg in alle Richtungen. Ihr Herz raste, ihr Atem pfiff, und Rica musste aufpassen, dass sie auf dem rutschigen Hang nicht den Halt verlor. Hinter ihr knackten Zweige, und schwere Schritte klangen durch die Stille. Rica wusste nicht, ob es sich um Nathan und Robin handelte, oder ob der Mann mit dem Messer die Verfolgung aufgenommen hatte.
Nathan und Robin! Rica stolperte und wäre beinah gestürzt. Sie taumelte, wurde langsamer und kam zum Stehen, indem sie sich mit einer Hand gegen einen Baumstamm abstützte. Sie hatte Nathan und Robin ganz vergessen, als sie losgerannt war.
Rica blickte sich um und entdeckte zu ihrer Erleichterung Robin direkt hinter sich. Doch die Erleichterung löste sich gleich darauf in Nichts auf, als sie Nathan sah. Er befand sich ein gutes Stück über ihr am Hang und war offensichtlich gestolpert und in den Tiefschnee getaumelt. Gerade kämpfte er verzweifelt darum, sich aus der Schneewehe zu befreien. Der Mann mit dem Messer war gar nicht mehr weit von ihm entfernt. Er stand zwischen zwei Baumstämmen und sah auf Nathan herab.
»Rica, lauf!«, rief Robin ihr zu, als er an ihr vorbeistürmte. Doch Ricas Blick hing immer noch an Nathan.
»Wir können ihn nicht einfach dalassen!«, schrie sie zurück und machte sich daran, den Hang wieder hoch zu rennen. Robin lief noch ein paar Schritte, bevor auch er stoppte. Er drehte sich nach ihr und Nathan um.
»Du spinnst«, brüllte er, doch er folgte ihr.
Der Mann mit dem Messer stand ganz still da und beobachtete interessiert, wie sie sich wieder den Berg hinaufkämpften. Als sie sich ihm näherten, konnte Rica erkennen, dass von der langen Klinge Blut in den Schnee tropfte, und musste wieder an die feine Blutspur denken, die neben seinen
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