Panic
wählte ich die Nummer. Dreitausend Meilen weit weg klingelte in meinem einstigen Zuhause in Boston das Telefon. Dreizehn Mal. Ich war schon im Begriff, wieder aufzulegen, als sich beim vierzehnten Klingeln mein Mann meldete. »Hallo?«
»Ich bin’s.«
Einen Moment lang dachte ich, Kevin hätte aufgelegt. Dann aber hörte ich ihn leise atmen.
»Ich bin froh, dass ich dich noch erwische«, platzte ich heraus. »Ich wollte noch mit den Kindern reden … bevor wir fliegen.«
»Die sitzen schon im Wagen«, entgegnete Kevin kurz angebunden. »Wir fahren zu meiner Mutter.«
»Du könntest sie für mich herholen.«
»Das könnte ich«, sagte er. »Aber ich will es nicht.«
»Willst du mich fertig machen, Kevin?« Ich hatte mir vorgenommen, ihn nicht mehr anzuschreien, aber ich konnte nicht anders.
»Das erledigst du schon selbst«, sagte er ruhig.
Ich holte tief Luft und versuchte, höflich zu sein. »Ich will nur auf Wiedersehen sagen. Diese Trennung schadet ihnen mehr als uns.«
»Sie sind schon im Auto«, sagte er mit Nachdruck. »Ich werde ihnen sagen, dass du angerufen hast.«
Ich drückte die Stirn gegen die kalte Glaswand der Telefonzelle. »Warum musst du so grausam sein? Hast du mich nicht schon genug bestraft?«
»Du bestrafst dich selbst, Diana.«
Ich wollte nicht wieder wütend werden. Schließlich durfte ich mir den Kontakt nicht ganz verbauen, aber da ging es schon wieder mit mir durch. »Das ist gelogen. Du bist ein Mistkerl, weil du mir das antust.«
»Der Richter schien anderer Meinung zu sein.«
»Ich bin eine gute Mutter, das weißt du auch.«
Er lachte. »Warum dann diese Reise?«
Ich sah hinaus auf den windgepeitschten See. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich flüsterte: »Ich kann nicht anders.«
»Das sagtest du bereits.« Nach kurzer Pause setzte er nach: »Wie ich es sehe, hast du den Verstand verloren. Jeder sieht es so, nur du nicht.«
»Ein wenig Mitgefühl wäre ja auch zu viel verlangt.«
»Ist aufgebraucht«, entgegnete er. »Ich muss los.«
»Kevin, bitte …«
»Ruf an, wenn du wieder da bist, Diana.«
Die Leitung war tot. Ich schloss die Augen und lauschte der Statik, als wäre sie ein wildes Tier, das sich elektrisch und zielbewusst durchs trockene Laub schlich.
Jemand klopfte heftig gegen die Tür hinter mir. Ich legte den Hörer auf die Gabel, wischte mir die Tränen weg und drehte mich um. Da stand ein Mann, der mir vage bekannt vorkam, klein, stämmig, kahl, Anfang fünfzig, in einem langen roten Pendleton-Mantel, dessen Webmuster einer Navajodecke nachempfunden war. Er steckte sich einen Streifen Kaugummi in den Mund und kaute mit mahlenden Kiefern, wobei er mich leicht hungrig musterte.
Ich erwähne das nur, um diese Geschichte wahrheitsgetreu zu erzählen.
Ich bin eine groß gewachsene Frau, ich sehe ganz gut aus, bin Mitte dreißig, habe einen dunklen Teint, unverkennbar der indianische Einschlag. Schlanke Taille, trotz zweier Kinder, kräftige Beine, gute Lungenkondition. Meine schwarzen Haare, grau meliert an den Schläfen, sind funktional kurz geschnitten. Meine Augen seien schieferfarben, aufmerksam, neugierig und trotzdem irgendwie traurig, sagte meine Mutter in einem ihrer seltenen lichten Momente kurz vor ihrem Tod. Wie Recht sie hatte.
Als ich die Tür aufmachte, sagte der Typ: »Wenn diese Telefonzelle ein Klo wäre, Süße, würde ich schwören, Sie hätten Dünnpfiff, so oft waren Sie schon hier.«
Sein Akzent klang nach Mesquitebäumen und Kakteen und Wachteln und Bourbon. »Hab versucht, meine Kinder zu erreichen«, sagte ich entschuldigend. »Ist das erste Mal, dass ich ohne sie verreise.«
»Kinder, na so was?« Er lachte in sich hinein. »Ich muss noch mal mit meinem Broker reden, bevor wir starten. Kann nicht glauben, dass die uns nur im Notfall telefonieren lassen.«
Ich zuckte die Schultern. »Ich freu mich irgendwie auf die Einsamkeit.«
»Einsamkeit?« Wieder lachte er in sich hinein. »Na ja, wenn Sie meinen.«
Ich drückte mich an ihm vorbei und ging zurück auf den Anlegesteg, vorbei an den Fischerbooten, die man zum Überwintern an Land gezogen hatte.
Der Pilot unterbrach seine Unterhaltung mit einer Frau, die etwas jünger war als ich, und stieg ins Flugzeug. Die Frau drehte sich um und musterte mich beifällig. Ich sie ebenso. Ohne den Viehtreibermantel aus Ölzeug, den Cowboyhut, das allzu präzise Make-up und die gleichgültige Miene hätte man sie bildhübsch nennen können. Sie verlagerte ihr Gewicht auf einen
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