Ein Freund aus alten Tagen
Stockholm, im September 1990
1 Sven Emanuel ging mit ungleichmäßigen Schritten die Fjällgatan hinunter und murmelte leise vor sich hin. Den Menschen, die ihm auswichen, sobald sie ihn sahen, schenkte er keinerlei Beachtung, stattdessen blieb er stehen, um mit seinen großen Stiefeln fest aufzustampfen. Alles in Ordnung, das Zeitungspapier in seinen Schuhen lag genau richtig und bildete eine wärmende Schicht. Er schlang den Schal fest um Hals und Kopf, blies warme Luft in seine Hände und ging weiter. Die Leute, denen er begegnete, fanden seine Kleidung möglicherweise ein wenig übertrieben für diesen lauen Herbstabend, aber sie waren sicher auch auf dem Weg in ihre geheizten Wohnungen.
Sven Emanuel schaute sich um und ging schneller. Zu seiner Linken glitzerten Neonlichter über dem Wasser, und er hätte alle Kirchtürme und Sendemasten der Stadt zählen können, aber für so etwas hatte er keine Zeit. Niemand durfte ihm zuvorkommen oder sein Geheimnis entdecken. Es war sein Platz, den ihm keiner wegnehmen durfte. Seit die Abteilung geschlossen worden war, hatte er nicht mehr so gut geschlafen wie dort. Mittlerweile hatten allerdings auch ein paar Jugendliche den Weg dorthin gefunden und saßen manchmal die halbe Nacht zusammen, während Sven Emanuel etwas entfernt im Gebüsch wartete.
»Verdammte Scheiße, was für ein Dreckspack«, murrte er und packte seine beiden Plastiktüten fester. Am Ende der Straße bog er rechts ab und eilte mit schnellen, trippelnden Schritten zu den Gebäuden der Diakonie Ersta. Er ging zu dem Torbogen, durch den man in einen kleinen Innenhof gelangte, und spähte den Hügel hinauf. Dort oben war es. Warme Luft strömte aus einem Lüftungsschacht und über die glatte Metallplatte, die für einen Schlafplatz die perfekte Größe hatte. An das schwache Brummen im Hintergrund hatte er sich gewöhnt und fand es fast schon gemütlich. Über der Platte war ein Dach angebracht, das sie vor Regen schützte und von Schnee und Feuchtigkeit frei hielt. Manchmal leerte die Müllabfuhr nur wenige Meter entfernt die Container, aber das störte ihn selten, meistens nahm er es kaum wahr.
Dann entdeckte er den Mann unter der Straßenlaterne, an der einzigen Stelle des Hofs, die beleuchtet war. Sven Emanuel musterte ihn von Kopf bis Fuß, und sein Magen krampfte sich zusammen. Der Mantel des Mannes war abgewetzt, die grauen Haare sahen aus, als hätte er sie selbst geschnitten, ein Schuh war an der Sohle eingerissen, und das Gesicht war so zerfurcht, als wäre es zu lange Wind und Wetter ausgesetzt gewesen. Ein verdammter Penner, der bestimmt zur selben Stelle wollte wie er.
Als Sven Emanuel sich ihm vorsichtig näherte, zuckte der Fremde zusammen und riss den Arm hoch, als wollte er sich verteidigen, lächelte dann aber und zwinkerte ihm freundlich zu. Vielleicht wollte er seine ängstliche Reaktion überspielen. Ein Schneidezahn war abgebrochen, und seitlich glänzte eine unförmige Brücke aus Metall. Der Mann stand aufrecht da, sein Blick flackerte nicht, und er bewegte sich wie jemand, der es gewohnt war, ernst genommen zu werden. Nun erinnerte er Sven Emanuel ein bisschen an den Hausmeister in seiner alten Schule und war ihm instinktiv sympathisch. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, dieser Mann war nicht auf der Suche nach einem Schlafplatz.
Er schielte über Sven Emanuels Schulter hinweg zu dem dunklen Torgewölbe.
»Wartest du auf jemanden?«, fragte Sven Emanuel.
Der Fremde antwortete ihm jedoch nicht, sondern betrachtete ihn nur nachdenklich, ehe er eine Geste mit beiden Händen machte, um auszudrücken, dass er ihn nicht verstanden hatte. Sven Emanuel begriff, dass der Mann nicht aus Schweden stammte, und als er sich zögernd auf den Hügel zubewegte, nickte ihm der ausländische Herr aufmunternd zu. Anschließend wandte er sich um und schaute wieder zu dem Torbogen hinüber. Muss wirklich jemand Wichtiges sein, auf den er da wartet, dachte Sven Emanuel.
Auf dem Hügel angekommen, überprüfte er ein letztes Mal, ob ihm auch keiner gefolgt war. Er hockte sich hinter ein Gebüsch und sah auf die Aussichtsterrasse hinunter. Der freundliche Ausländer stand immer noch im Schein der Laterne, Sven Emanuel konnte seine Gesichtszüge deutlich erkennen. Nun lächelte der Mann nicht mehr. Sven Emanuel folgte seinem Blick und hätte beinahe aufgeschrien, als er am Torbogen eine schattenhafte Gestalt entdeckte. Der Mann in dem abgewetzten Mantel schaute sich um und ging zum Geländer,
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