Prophezeiung der Seraphim
musst du etwas über uns wissen.«
»Ihr seid Seraphim, du und dein Bruder, nicht wahr?«, sagte Javier sanft.
Julie blieb erschrocken stehen.
Du kannst ihm vertrauen , sagte Songe, die sie noch immer auf dem Arm hielt. Julie bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Woher weißt du das?«
Javier räusperte sich. »Ich hab euch zufällig belauscht. Heute nach der Vorstellung. Aus dem, was ihr gesagt habt, konnte ich mir einiges zusammenreimen. Und ich würde mich wundern, wenn ich falschläge.«
»Wieso weißt du von den Seraphim?«
»Weil ich selber einer bin.«
Julie öffnete den Mund, aber in ihrem Kopf drängten sich so viele Fragen, dass zunächst gar nichts herauskam. »Aber du hast eine Aureole«, sagte sie schließlich. »Seraphim haben keine.«
Dann fiel ihr Nicolas ein. Er besaß ebenfalls einen Schein, weshalb sollte es nicht andere wie ihn geben?
»Aureole?«, fragte Javier verdutzt, und sie erklärte ihm eilig, was es damit auf sich hatte.
»Beeindruckend«, sagte er dann. »Genau genommen bin ich nur ein halber Seraph.« Sie hatten Javiers Zelt erreicht und dämpften ihre Stimmen. »Meine Mutter war ein Mensch.«
Julies Kopf schwirrte. Dass Seraphim mit Menschen Kinder zeugen könnten, war ihr noch nie in den Sinn gekommen
Glaub ihm ruhig , meinte Songe. Weshalb sollte er dich anlügen?
»Wenn wir mehr Zeit haben, erzähle ich dir alles«, sagte Javier. »Aber jetzt sollten wir uns auf den Weg machen.« Er verschwand im Zelt und kam gleich darauf mit einer Laterne wieder, die er Julie in die Hand drückte. »Du suchst Nicolas, ich gebe deinem Freund Fédéric Bescheid. Lass dich nicht von den anderen erwischen, inzwi schen werden sie so betrunken sein, dass sie zu allem fähig sind.«
Julie nickte und blendete die Laterne ab, sodass nur ein schmaler Strahl vor ihr auf den Boden fiel. Trotzdem machte sie zur Sicherheit einen weiten Bogen um das Lager, um von so wenigen Leuten wie möglich gesehen zu werden.
Flajollet hatte sein Zelt wie immer in der Nähe seiner Pferde aufgestellt. Leise rief Julie nach Nicolas, weil sie nicht wusste, ob der Pferdehändler bereits schlief. Sie sah sich überall um, aber Nicolas war nicht da.
So ein Mist, schimpfte sie in Gedanken. Songe, die neben ihr hergelaufen war, blieb stehen und drehte die Ohren hin und her.
Da hinten, bei der Baumgruppe , sagte sie. Vielleicht ist es nur ein Tier, aber ich höre etwas.
Julie schlich hinüber zu dem dunklen Gewirr aus Büschen und Bäumen, stellte die Laterne ab und lauschte. Jetzt hörte auch sie ein Rascheln und heftiges Atmen, eine Frau seufzte. So leise wie möglich drängte sich Julie zwischen zwei Sträuchern hindurch, hinter welchen sich eine Lichtung öffnete. Mondlicht fiel durch die Zweige und tauchte die Szene vor Julies Augen in Licht und Schatten, sodass sie erst nach einigen Augenblicken erkannte, was sie sah: Nicolas’ Oberkörper war nackt, seine Muskeln traten stark hervor. In den Armen hielt er Olga, deren Fingernägel sich in seinen Rücken krallten. Sie hatte den Kopf zurückgeworfen, beider Münder waren in einem innigen Kuss verschmolzen. Olgas Augen waren geschlossen, sie schien alles um sich herum verges sen zu haben. Nicolas’ Augen hingegen standen offen – weiß strah lend wie der Mond hoch über ihm.
Julie schlug sich die Hand vor den Mund, um ihren Schrei zu unterdrücken, aber zu spät. Nicolas ließ Olga los, die am Boden zusammensank wie eine Marionette, deren Fäden man durchgeschnitten hatte, und so schnell, dass Julie nicht sah, wie er die Entfernung zwischen ihnen zurücklegte, hatte er die Lichtung über quert und stand vor ihr.
Mit aller Konzentration starrte sie auf seine Bauchmuskeln, die sich unter seinen heftigen Atemzügen hoben und senkten. Würde sie ihm in die Augen sehen, wäre sie verloren.
»Was tust du da?«, fragte sie heiser. Ihr Herz schien in ihrer Kehle zu schlagen. Sie atmete Nicolas’ unwiderstehlichen Geruch ein, und sie musste all ihre Willenskraft aufbieten, um nicht die Hand auszustrecken und ihn zu berühren. Ihre Knie wurden weich vor Begehren. Sie musste sein Gesicht sehen, nur für einen Moment. Langsam hob sie den Kopf.
Ein kurzer Schmerz in ihren linken Bein und ein eindringliches Nicht! ließen sie zusammenzucken.Songe hatte sie gekratzt, wie schon einmal, als Ruben und sie beinahe die Amulette zusammengefügt hatten.
Der Bann war gebrochen, und mit gesenkten Augen wich Julie zurück,
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