Die Quelle
Prolog
Gequält klang sein Lachen, als es durch den Wald
hallte. Der König verstummte sogleich, erschrocken von seiner eigenen
Stimme, erschrocken von diesem ersten Zeichen des Wahns. Die Zeit, die er zu
beherrschen glaubte, als er den Weg zur Unsterblichkeit gefunden hatte,
berührte zwar seinen Körper nicht, doch sie nagte unerlässlich
an seinem Verstand.
Er löste sich aus seiner Reglosigkeit, lehnte sich
gegen einen Baum und sackte langsam zu Boden, übermannt von seiner
Verzweiflung. Der König wusste, der Wald der Quelle pulsierte kurz vor
Sonnenuntergang voller Leben, dennoch umgaben ihn nur das Rascheln der
Blätter, das müde Knarren einiger Äste und das Pfeifen der
leichten, abendlichen Brise. Er konnte die Tiere nicht sehen, nicht hören,
nicht riechen… Er konnte sie nicht wahrnehmen, ebenso wenig wie sie ihn
wahrnehmen konnten. Das Leben an das er sich erinnerte, fand ohne ihn statt.
Der Fluch hielt ihn von allem fern, was seiner Existenz Bedeutung geschenkt
hätte.
Er blickte auf seine Hand herab, die auf der dunklen Erde
des Waldes ruhte. Er konnte durch sie hindurch sehen… Langsam griff er in die
Erde hinein, presste eine Handvoll zu einem Klumpen. Durch seine geballte Faust
sah er sowohl die zusammengepresste Erde als auch seine Handfläche… Sein
Körper hatte kaum noch Bestand. Nur noch die Erinnerungen seines Volkes
hielten ihn am Leben… Dass er noch hier war, in diesem Wald, in den der Fluch
ihn vertrieben hatte, bewies ihm Tag für Tag, dass sein Volk ihn nicht
vergessen hatte…
Wie konnte er der Schwäche der Verzweiflung
nachgeben? Sein Volk war es, das ihn am Leben hielt, seinem Volk schuldete er
Geduld und Hoffnung! Langsam zerrieb er den Erdklumpen zwischen seinen Fingern,
ließ die frische, feuchte Erde zu Boden rieseln und hob den Blick. Er
wusste, nur wenige Meter weiter leuchtete der See der Quelle und nährte
die Welten mit seiner Lebensenergie. Er brauchte nur seinen Geist zu öffnen,
um diese Lebensenergie in sich aufzunehmen… Er musste es nur zulassen, er
musste nur annehmen, dass die Existenz ihn auch ohne Kommunikation
erfüllen konnte… Er musste lernen, sie in ihrer reinsten Form zu
genießen… Für diese Art des Lebens war er zwar als Mensch nicht
geschaffen, doch er hatte viel Zeit für diese Lehre, die seinen Verstand
retten konnte… Sie anzunehmen, war er all denjenigen schuldig, die noch an ihn
dachten und an seine Worte glaubten… Das war er vor allem ihr schuldig, die
sich für ihn geopfert hatte, ihr, auf deren Rückkehr zu hoffen er
verurteilt war, ihr, an die er kaum zu denken wagte, als könne Sehnsucht
seine Seele ergreifen und zerbersten lassen.
Tief atmete er den Geruch der Erde des Waldes ein und
öffnete seinen Geist… Er erspürte seine Umgebung, erspürte den
See der Quelle… Wie leicht es doch war! Er musste es nur zulassen. Die Kraft
des Lebens fand ihren Weg zu ihm, ließ leise die Luft um ihn herum
vibrieren und klirren, als nähme sie feste Gestalt an, während sie in
seine gepeinigten Gedanken floss... Die Energie der Quelle erfüllte schon
bald den König mit ihrer beruhigenden Macht. Er gab sich ihr hin,
löste seine Gedanken in ihr auf. Er ergab sich dem Leben der Bäume,
der Pflanzen, des Wassers, der Felsen und der Luft… Er wurde eins mit seiner
Umgebung und legte die Ungeduld ab, die den Sterblichen eigen war… Er war
unvergänglich, für die Ewigkeit mit der Quelle des Lebens verbunden…
Einst war er König Leathan, Herrscher über das
Volk der Wächter der Quelle, Herausforderer der Götter, Geliebter
einer Unsterblichen! Nun war er Namenlos, er war das Bewusstsein des Waldes, er
war sein Gedächtnis, sein Wächter, seine Seele… Das Warten hatte
keine Bedeutung mehr, der Fluss der Zeit wiegte den einstigen König durch
die Jahrhunderte, unbetrübt, gefühlsbefreit, bereit…
Das Kind der Quelle
Kapitel 1
Die Musik aus Lisas Zimmer hallte derartig laut durch das
gesamte Haus, dass sogar das Kaffeegeschirr auf dem Wohnzimmertisch klirrte. Als
ihre Mutter sah sich Sandra zum Eingreifen gezwungen. Entschlossen ging sie die
Treppe hinauf, doch vor der Schlafzimmertür hielt sie einen Augenblick
inne. Sie zögerte plötzlich. Womit würde sie es diesmal zu tun
bekommen? War die laute Musik wirklich nur ein Zeichen dafür, dass ihre
Tochter sich endlich wie ein normaler Teenager verhielt? Zu vieles war in den
vergangenen Wochen geschehen, zu vieles, das Sandra verarbeiten musste. Nur
kurz dachte sie an ihre
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