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Ruf der Toten

Ruf der Toten

Titel: Ruf der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Feige
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schien sie Paul auf dem Holzschemel zur Kenntnis zu nehmen. Besorgt schaute sie unter dem Häubchen und ihrem kastanienroten Haar hervor. »Können wir etwas für Sie tun?«
    Paul widerstand dem Reflex, sich die Tränen aus den Augen zu wischen. Er wollte sich seiner Tränen nicht schämen. Niemand lachte ihn deswegen aus, schon gar nicht die Stationsschwestern, die jeden Tag mit dem Leid der nächsten Angehörigen konfrontiert wurden.
    »Danke, nein«, sagte er und sah von Bea auf. Die Pflegerin hieß Linda, darauf machte ein kleines Namensschildchen am Kittelrevers aufmerksam. Der Name der Schwester vor einer halben Stunde war Betty gewesen, daran konnte er sich noch entsinnen. Den Namen der Schwester von vor zwei Stunden hatte er bereits wieder vergessen.
    Ja, natürlich konnten Linda, Betty und all ihre Kolleginnen etwas für ihn tun. Wie wäre es mit: Beatrice aus dem Koma befreien, damit sie nicht länger wie eine Leiche dalag. Sie wieder in jene lebensfrohe Person zurückverwandeln, die sie gewesen war, bevor das mit ihr geschah, zurück in die junge Frau, die in der Lage war, sich selbst zu waschen und ihr Deo aufzutragen und ihr wunderbares liebliches Parfüm. Bea, die jeden Tag aufs Neue ihr Leben genoss und die mit ihm so viele Monate der… Nein, es hatte keinen Sinn, sich zu erinnern – es machte ihm nur einmal mehr schmerzhaft die Veränderung bewusst. An der Situation änderte es nichts.
    Paul rutschte auf dem Stuhl herum, wollte sich in eine bequemere Position bringen. Er suchte sie vergeblich, und wenn er ehrlich war, wollte er sie auch nicht finden. Warum sollte er es bequem haben? Wenn Bea litt, konnte auch er leiden.
    Schwester Linda verharrte auf der anderen Seite des Bettes, noch immer drückte sie das Tablett an ihren Busen, sie wirkte dabei wie eine Serviererin im The North Side. Sie sah auf Bea herab und lächelte mitfühlend. »Ihre Gattin ist eine schöne Frau.«
    Am liebsten hätte Paul geschrien. Wie können Sie das sagen? Sie haben sie ihrer Schönheit beraubt! Wo ist ihr langes schwarzes glänzendes Haar? Stattdessen sagte er nur: »Sie ist nicht meine Frau!«
    Falls Linda die Schärfe in seiner Stimme auffiel, so ließ sie es sich nicht anmerken. Krankenpfleger waren vermutlich daran gewöhnt, dass Angehörige überreagierten. Anders als sie waren die Besucher nicht jeden Tag mit Krankheiten und Tod und Zufall konfrontiert, sie hatten nicht gelernt, dem Stress, der Angst, dem alltäglichen Grauen mit Gleichgültigkeit zu begegnen.
    Es dauerte einen Moment, bis Paul erklärte: »Wir wollten heiraten, in vier Monaten.« Er schluckte, und wieder gerann das Wasser zwischen seinen Augenlidern. »Alles war geplant, sogar die Hochzeitsreise. Nach Yorkshire. Bea, ich meine, meine Freundin, mochte das Land, sie liebte die Gegend, die Menschen, die Küste. Es war, als…« Seine Stimme versagte.
    Linda sagte nichts. Sie nickte nur, wie sie es wahrscheinlich bereits zehnmal zuvor in anderen Krankenzimmern getan hatte und heute noch in dreißig weiteren tun würde.
    »… und jetzt liegt sie hier«, sagte Paul, und er war kaum zu verstehen, so leise sprach er.
    Linda verstand ihn dennoch, auch das gehörte zu ihren Aufgaben. »Sie dürfen die Zuversicht nicht verlieren«, sagte sie.
    Bea hätte wahrscheinlich keine Schwierigkeiten gehabt, dem Ratschlag Folge zu leisten. Sie war voller Leben und positiver Energie, vor allem verfügte sie über unendliche Geduld, so ganz anders als er. Einmal, als sie nach einem Picknick ihr Portemonnaie mitsamt Kreditkarte, Personalausweis und Führerschein drüben im Hampstead Heath verloren hatte, wollte er sie geradewegs zum Fundbüro schleppen. Es schien aussichtslos, in dem Gewimmel der Wege, die sie auf dem Heimweg entlangspaziert waren, die Geldbörse je wieder zu finden. Doch Bea hatte sich nicht beirren lassen: »Sie muss irgendwo hier liegen!« Er war anderer Ansicht gewesen. Und sie hatte gesagt: »Vertrau mir einfach!« Sie gab nicht eher Ruhe, bis sie alle Ecken des Parks durchstöbert hatten. Und siehe da, sie hatten die Geldbörse wenige Meter von der Stelle entfernt gefunden, an der sie im Grünen gefrühstückt und anschließend Federball gespielt hatten. Strahlend hatte sie ihm danach gegenübergestanden, in dem Kleid mit den Sonnenblumen, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte und einen neckischen Schlitz an den Beinen besaß. Das satte Grün der Parkwiesen hatte der sommerlichen Bräune ihrer Haut geschmeichelt. Alles hatte

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