Ruf der Toten
nicht nur Cato sicher, wäre es nicht ausgerechnet in der Gemeinde von Comistadore geschehen. Jenem gefallenen Priester, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte. Nicht auszudenken, wenn man ihn allein ließ mit jenen Ereignissen, die über die Gemeinde hereinbrechen würden, sobald die Kunde von den ›Wundern‹ nach außen gedrungen war.
Catos Handy klingelte. Erstaunlich, dass es in dieser Einöde überhaupt Empfang hatte, aber die Technik von heute brachte so manches Wunder zustande. Er musste lächeln über den Vergleich, holte das Telefon hervor und meldete sich mit einem knappen »Ja«.
»Wir brauchen Sie!«, sagte eine Stimme, die Cato auf Anhieb erkannte. Denn erst vor wenigen Tagen hatte ihn die gleiche Stimme aufgefordert, in Trujillo für klare Verhältnisse zu sorgen. Aber selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, er hätte die Stimme jederzeit erkannt.
»Wie eilig ist es?«, wollte Cato wissen.
»Sehr eilig.«
»Ich habe hier noch nicht alles erledigt.«
»Erledigen Sie den Job sofort!«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Wir können nicht warten.«
»Dann werde ich mich auf den Weg machen.«
»Danke.«
Ohne ein weiteres Wort beendeten sie das Gespräch. Als Cato die Kapelle verließ, war er nicht wenig überrascht. Die Sonne hatte längst ihren Zenit überschritten und färbte den Abendhimmel blutig rot. Trotzdem lag die Luftfeuchtigkeit immer noch jenseits des Erträglichen, und von einer Sekunde auf die andere überzog ein nasser Film seine Haut.
Die Einwohner hatten sich auf dem staubigen Vorplatz versammelt und warteten ungeduldig darauf, die steinerne Madonna endlich wieder anbeten zu dürfen. Während Cato die Stufen hinabschritt, richteten sich ihre Augen erwartungsvoll auf ihn. Die Aufmerksamkeit, die ihm dadurch zuteil wurde, war ihm unangenehm. Aber es ließ sich nicht ändern. Ob die Menschen ahnten, weswegen er wirklich hier war? Sicher nicht.
Er beachtete sie nicht, sondern nickte nur Comistadore zu, der bei einer Gruppe von älteren Herrschaften stand. Ein aufatmendes Raunen ging durch die Menge, bevor sie sich in Bewegung setzte.
»Und?«, wollte das Frettchen wissen und trat zu Cato. Unter seinen Achseln fraß sich der Schweiß in den Stoff der Soutane.
»Ich muss mit Ihnen reden«, entgegnete Cato angewidert.
»Ich höre.«
»Nicht hier.«
»Wie Sie wünschen.«
Cato ließ den Blick schweifen. Das Abendlicht hatte den Ort erreicht, doch noch immer flirrten die sandigen Straßen vor Hitze. Es hätte ihn nicht verwundert, wenn aus den glaslosen Fenstern der Häuser Rauch gequollen wäre – wie aus einem Backofen.
Einige hundert Meter entfernt lag der Ortsausgang mit dem von der Sonne ausgeblichenen Schild, das die Besucher, die niemals kamen, in Trujillo begrüßte. Die Brücke spannte sich über den Fluss, der statt Wasser nur braunen Schlamm führte.
»Lassen Sie uns einen Spaziergang machen«, schlug Cato vor.
»Wohin?«, fragte Comistadore.
»Irgendwohin…«
Mittwoch
Irgendwo
Irgendwo standen sie, und es war dunkel. Die Welt lag verlassen. Zumindest glaubten sie, dass es die Welt war, die sie kannten, auch wenn alles um sie herum fremd und bedrohlich erschien. Das wenige Licht, das sie umgab, entstammte nicht Laternen, die von elektrischen Leitungen in unterirdischen Kabelröhren gespeist wurden, sondern unzähligen Brandherden. Unruhig warfen die Flammen ihr Licht auf Ruinen, entblößten für Sekunden Häuser, deren Fenster in bleichen Wänden wie erschrockene Augen klafften. Knochen aus einem toten Leib gleich, ragten Balken aus Dachgiebeln, deren Ziegel zersplittert am Boden lagen. Sie entdeckten kleine zerborstene Säulen, die einst die Treppenhäuser der Altbauten getragen hatten, jetzt aber nur noch wie Arme wirkten, die man gewaltsam gebrochen hatte. Dazwischen zeichneten sich für einen Moment die Gemäuer vor dem finsteren Himmel ab, bleiche tote Körper.
Sie folgten einer Straße oder etwas, was einmal eine Straße gewesen war. Das Pflaster war von Jahren der Abnutzung holprig geworden. Unkraut bahnte sich seinen Weg durch Abfall und Autowracks. Halb verhungerte Hunde streunten zwischen den Trümmern, und verwilderte Katzen strichen wie Schatten durch die Nacht.
Diese Welt lag im Sterben. Sie mochten sich nicht ausmalen, was hier geschehen war. Wie es wohl anderswo, außerhalb der Stadtgrenzen, aussehen mochte? Hatte dieses Inferno schon den Rest der Welt ereilt?
Aber dies konnte nicht ihre Welt sein, durfte es nicht. Es
Weitere Kostenlose Bücher