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Sansibar Oder Der Letzte Grund

Sansibar Oder Der Letzte Grund

Titel: Sansibar Oder Der Letzte Grund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Andersch
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Judith so spät wie möglich in Gang kam. Sie hatte ihm nicht gesagt, daß sie nach Rerik gehen würde. Heise hatte verschiedene ausgezeichnete Fluchtwege vorgeschlagen, aber Judith hatte dazu nur eigensinnig den Kopf geschüttelt. Mama war gestorben, damit sie, Judith, nach Rerik gehen könne. Es war ein Testament, und sie hatte es zu vollstrecken.
    Sie hatte sich Rerik ganz anders vorgestellt. Klein und bewegt und freundlich. Aber es war klein und leer, leer und tot unter seinen riesigen roten Türmen. Erst als Judith aus dem Bahnhof trat und die Türme erblickte, hatte sie sich daran erinnert, daß Mama von diesen Türmen entzückt gewesen war. Das sind keine Türme, hatte sie immer gesagt, das sind Ungeheuer, wunderbare rote Ungeheuer, die man streicheln kann. Unter dem kalten Himmel aber kamen sie Judith wie böse Ungeheuer vor. Auf jeden Fall waren es Türme, die sich um Mamas armen Gifttod nicht kümmerten, das fühlte Judith. Auch nicht um ihre Flucht. Von diesen Türmen war nichts zu erwarten. Sie war schnell unter ihnen vorbeigegangen, durch die Stadt hindurch, zum Hafen. Dort konnte sie ein Stück von der offenen See erblicken. Die See war blau, ultramarinblau und eisig. Und es lag kein Dampfer, kein noch so kleiner Dampfer im Hafen.
    Dann war sie in das ›Wappen von Wismar‹ gegangen, weil es sauber aussah und mit heller Ölfarbe gestrichen war. Der Wirt, ein Block mit einem weißen, fetten Gesicht, schien erfreut über den unerwarteten Gast: Na, Fräulein, was machen Sie denn noch so spät im Jahr in Rerik? Judith hatte etwas von den Kirchen gemurmelt; sie wolle sich die Kirchen ansehen. Er nickte und schob ihr das Gästebuch hin. Sie trug sich ein: Judith Leffing. Das klang ganz gewöhnlich hanseatisch. Der Wirt hatte keinen Paß verlangt. Rerik schien wirklich ein toter Platz zu sein.
    Judith hörte auf, in ihrer Handtasche zu kramen, und dachte an ihren Namen. Judith Levin. Es war ein stolzer Name, ein Name, der abgeholt werden würde, ein Name, der sich verbergen mußte. Es war furchtbar, Judith Levin zu sein in einer toten Stadt, die unter einem kalten Himmel von roten Ungeheuern bewohnt wurde.
    Zuletzt suchte Judith eine Fotografie ihrer Mutter hervor und legte sie auf das Kopfkissen. Sie zwang sich, nicht zu weinen.
    Der Junge
    Wenn wir Vaters Boot noch hätten, dachte der Junge, dann wäre ich so frei wie Huckleberry Finn. Bei ruhiger See würde ich mich mit einem Kutter schon hinauswagen, hinaus und nach Dänemark oder Schweden rüber. Aber Mutter hatte Vaters Boot verkauft, es war geborgen worden, kieloben treibend und ziemlich havariert, aber es war doch noch etwas wert gewesen, und Mutter hatte es verkauft, weil sie Schulden hatten. Und jetzt war er Knudsens Junge, und es würde Jahre dauern, bis er eine Fangbeteiligung bekam, und darnach wieder Jahre, bis er so viel gespart hatte, daß er ein eigenes Boot kaufen konnte. Ich will aber gar kein Boot für die langweilige Fischerei haben, dachte der Junge, ich will ein Boot für die offene See haben, ein Boot, um hier herauszukommen. Alles, was Huck Finn konnte, kann ich auch: ich kann angeln und ich kann Fische braten und ich kann mich gut verstecken. Aber Huck Finn hatte den Mississippi und ein gutes Boot für den Mississippi. Der Junge stand auf, schob das Buch in die Tasche und ging zum Hafen runter. Er hatte vollständig vergessen, daß er sich noch an den dritten Grund erinnern wollte, den letzten Grund dafür, daß er raus wollte, raus aus Rerik.
    Gregor
    Es kam so, wie Gregor es sich vorgestellt hatte: die Kiefern hörten auf einmal auf, die Straße hob sich noch einmal auf den Rücken der Moräne, und von oben bot sich das erwartete Bild: die Weiden, die Koppeln, von schwarz-weißen Kühen und von Pferden gefleckt, dann die Stadt, dahinter das Meer, eine blaue Wand.
    Aber die Stadt war zum Staunen. Sie war nichts als ein dunkler, schieferfarbener Strich, aus dem die Türme aufwuchsen. Gregor zählte sie: sechs Türme. Ein Doppelturm und vier einzelne Türme, die Schiffe ihrer Kirchen weit unter sich lassend, als rote Blöcke in das Blau der Ostsee eingelassen, ein riesiges Relief. Gregor stieg vom Rad und betrachtete sie. Er war auf diesen Anblick nicht gefaßt. Sie hätten es mir sagen können, dachte er. Aber er wußte, daß die Leute im Zentralkomitee für so etwas keinen Sinn hatten. Für sie war Rerik ein Platz wie jeder andere, ein Punkt auf der Landkarte, in dem sich eine Zelle der Partei befand, eine Zelle hauptsächlich aus

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