Schatten eines Gottes (German Edition)
Rundgänge.
Abgereist war offenbar niemand, aber weshalb war keiner zur Morgenandacht erschienen? Nicht einmal die Mönche? Etwas ging hier vor, und Sinan war wütend, dass er nicht wusste, was das war. Missmutig kehrte er in sein Versteck zurück. Die Kardinäle würden schon kommen. Das waren doch lauter fromme Männer, die auf die Einhaltung der Stundengebete Wert legten, wenn sie sich nicht den Zorn Gottes zuziehen wollten.
Zu den Laudes bei Tagesanbruch kam niemand, genauso wenig zu den übrigen Zeiten, der Prim, der Terz und wie sie sich alle nannten. Sinan waren die Namen herzlich gleichgültig, er wusste nur, dass es den lieben, langen Tag um nichts anderes zu gehen schien, als zu singen und zu beten. Zumindest die Mönche waren hier sehr beharrlich. Die Kardinäle – nun, sie durften sicher die eine oder andere Hore auslassen, aber alle Gebete vernachlässigen? Gab es innerhalb des Klosters vielleicht noch einen weiteren Gebetsraum, den sie nutzten? Aber weshalb mieden sie die Kapelle gänzlich? Sinan wurde ungeduldig, und er wusste, das war nicht gut. Er musste die Nerven behalten.
Manchmal näherten sich Schritte der Kapelle, dann verbarg er sich hinter der Marienstatue. Aber es waren nur die Wächter auf ihren Rundgängen. Sinan wartete auf die Vesper. Sie war ein wichtiger Teil des Stundengebets, kein Mönch, kein Priester, kein Kardinal versäumte sie, es sei denn, er war ernsthaft verhindert. Waren die Mönche und Kardinäle verhindert, das Haupthaus zu verlassen? Aber wer sollte sie daran hindern?
Sinan hatte es schon geahnt. Weder zur Vesper noch zur Komplet erschien auch nur ein Mauseschwanz. Er fühlte sich genarrt, aber was konnte er tun, außer abzuwarten? Draußen patrouillierten die Wächter, die sofort Alarm schlagen würden, wenn sie seiner ansichtig wurden. Den Benediktinermönch konnte er ihnen hier im Hof nur kurze Zeit vorspielen, und wenn er durchschaut wurde, gab es keine Fluchtmöglichkeit.
Die Nacht verbrachte Sinan auf dem Stuhl, halb schlafend, halb wachend. Sie verstrich ohne einen Zwischenfall. Der Morgen ebenfalls und ebenso der Tag. Sinan hatte genug Zeit zum Nachdenken. Fand hier vielleicht eine Verschwörung statt? Oder wurde die Kapelle tatsächlich kaum noch genutzt? Das wäre verhängnisvoll. Er war auf Informationen angewiesen, aber alles war wie ausgestorben. Hin und wieder tat Sinan einen Blick auf den Hof. Kurz vor der Komplet beobachtete er bei den Wächtern eine Unruhe. Sie standen nun näher beisammen und redeten miteinander. Etwas war vorgefallen, wovon sie Kunde erhalten hatten. Oder sie wussten genauso wenig wie Sinan und tauschten nur Vermutungen aus. Leider konnte Sinan keins ihrer Worte verstehen, die Entfernung zu ihnen war zu groß. Er beschloss, noch bis Mitternacht zu warten und dann über die Mauer zu steigen. Vielleicht konnte er draußen jemanden allein erwischen und eine Information aus ihm herauspressen.
Die Komplet war vorüber, und Sinan wollte sich zur Hintertür hinausschleichen, als er Schritte hörte, die entschlossen auf die Kapelle zukamen. Er huschte hinter die Madonna. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen. Zwei Mönche traten ein. Sie hielten große brennende Kerzen in den Händen und trugen sie zum Altar. Was sie sonst noch taten, konnte Sinan nicht erkennen, weil er nur ihre Rücken sah. Jedenfalls sprachen die Kerzen für ein weiteres Ereignis. Endlich! Nun würde er bald klarer sehen. Einen Augenblick hatte er überlegt, sich die Mönche zu schnappen, doch jeden Moment konnte noch jemand hereinkommen, er verwarf den Gedanken als zu gefährlich. Was hatte der Meister gesagt? Sorgfalt geht vor Schnelligkeit. Jetzt durfte er nicht überstürzt handeln.
Die Mönche hatten die Kapelle wieder verlassen. Sinan starrte auf die Tür. Plötzlich kam ihm ganz planlos die Sache mit den beiden Toten außerhalb der Mauer in den Sinn. Hatte man sie nicht vermisst? Wenn man sie gefunden hatte, was hätte man unternommen? War ihm das in seinem Versteck entgangen? Er überlegte noch, was für Folgen das gehabt haben könnte und hatte die Tür kurz aus den Augen gelassen. Ein Luftzug schreckte ihn auf. Die Tür stand jetzt einen Spalt offen. Er hörte gedämpfte Stimmen, dann Schritte, die sich entfernten. Und dann kam er herein!
Sinan glaubte, seine Sinne würden ihm einen Streich spielen. Aber nein! Er war es wirklich! Papst Innozenz war gekommen, um allein in der Kapelle zu beten. Soviel Glück konnte ein Mensch gar nicht haben.
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