Schatten eines Gottes (German Edition)
eine Weile bleiben, bis das schlimmste Gewühl vorüber ist«, sagte Adam zu Merte. »Den Anschluss verlieren wir schon nicht bei den vielen Menschen.«
Merte bettete ihren Kopf gleich auf einem der Säcke. »Ach ja. Ich bin sehr müde. Lass uns eine Weile schlafen.«
Adam schloss die Tür und legte sich neben sie. Nur durch die Ritzen der Türbalken fiel jetzt noch ein wenig Licht. Der Lärm von der Straße drang hier wie ein fernes Rauschen zu ihnen. Der Weg vom Totenmannsgrund war lang gewesen. Adam fasste Mertes Hand, und sie schliefen gleich ein.
Sie wurden von einem Geräusch geweckt. Das gleichförmige Tappen vieler Schritte und das gedämpfte Murmeln Hunderter Münder war verstummt. Stattdessen klang es, als zöge ein Herrscher mit Gefolge ein. Hufgeklapper und das Holpern von Karrenrädern war zu hören, dann und wann ertönte ein scharfer Befehl. Adam schlich zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Das ging leichter als erwartet, weil die Massen nicht mehr dagegen drückten. Adam und Merte, die sich neugierig an ihn drängte, steckten ihre Köpfe hinaus.
Ein Trupp Berittener, bewaffnet und in gutes Tuch gekleidet, trabte durch die Gasse und machte den Weg frei für den Karren, der rumpelnd folgte. Wer sich ihnen in den Weg stellte oder vor die Füße lief, wurde brutal zur Seite gestoßen, ob er nun ein Kreuz trug oder nicht. Der Karren, ein gewöhnlicher Ochsenkarren, wurde von vier kräftigen Burschen gezogen und war mit Teppichen und Blumen geschmückt. Zur Rechten und zur Linken wurde er von weiteren Reitern eskortiert, und von einem Gefolge von abermals zehn Reitern begleitet, die zwei Ochsengespanne mit sich führten. Diese sollten offensichtlich irgendwann die vier Burschen ablösen. Im Anschluss an die Reiter schritten Priester und Mönche, Gebete murmelnd oder hin und wieder ein Halleluja ausstoßend. Alle trugen das Kreuz auf ihren Gewändern. Von den Kindern, die den eigentlichen Kreuzzug bilden sollten, war nichts mehr zu sehen, sie waren in die Nebengassen abgedrängt worden oder wimmelten immer noch auf dem Domplatz herum.
Auf dem Karren saß stumm und bleich vor Erschöpfung Nicholas, den die Reiter mit ›Erhabener Meister‹ anredeten. Adam zog Merte an sich und wies verstohlen auf ihn. »Das ist er«, flüsterte er. »Er hat Mutters Leben gerettet und das vom kleinen Franzl auch.«
»Laufen wir doch hin zu ihm!«
»Das geht nicht. Siehst du nicht die Ritter? Sie passen auf ihn auf.«
»Aber warum denn? Es haben ihn doch alle lieb.«
Adam biss sich auf die Unterlippe. »Weiß ich auch nicht. Ich glaube nicht, dass Nicholas das gefällt. Er sieht nicht glücklich aus. Aber vielleicht hat alles seine Richtigkeit, was wissen wir schon?«
Der Karren näherte sich der Tür, wo Adams und Mertes Köpfe hervorlugten. Drohende und missbilligende Blicke wurden ihnen von den Reitern zugeworfen. Es waren lauter junge Männer, einige selbst dem Knabenalter noch nicht entwachsen. Jetzt befand sich der Wagen auf gleicher Höhe, und Adam winkte Nicholas lachend zu. Auch Merte winkte. Und Adam schien es, als habe Nicholas zurückgelächelt.
Einer der Reiter lenkte sein Pferd an den Rand und kam auf sie zu. »Verschwindet!«, zischte er. »Euer Platz ist am Ende des Zuges.«
›Warum denn?‹, wollte Adam trotzig auffahren, doch der Respekt vor Höhergestellten hielt ihn davon ab. Er wich jedoch keine Handbreit zurück und winkte weiter.
Nicholas machte eine müde Handbewegung zu ihm hin, als wolle er ihn segnen. Der junge Mann auf dem Pferd trat gegen die Tür. »Hast du keine Ohren, Bengel?«
Merte begann vor Angst zu weinen. Da erhob sich Nicholas, und sein bleiches Gesicht überzog zornige Röte. »Lasst sie in Ruhe!«
»Aber Erhabener …«
»Und bringt die beiden zu mir herauf!«
»Erhabener, wir …«
»Sofort! Ich befehle es!«
»Erhabener, bedenkt doch! Da drin halten sich womöglich noch zwanzig, dreißig andere auf.«
»Na wenn schon!« Nicholas’ sanftes Gesicht trug verbitterte Züge, und aus der Tiefe seiner zornigen Seele stieg der durchdringende Klang seiner Stimme. »Dann werden sie ebenfalls aufsitzen, und wenn der Platz nicht reicht, werden wir weitere Karren besorgen!«
Nicholas war in der Tat erschöpft. Die letzten Tage und Stunden hatten ihn seine ganze Kraft gekostet. Stets mit denselben Worten Zuversicht verbreiten, predigen, immer lächeln, immer wieder segnend die Hände ausbreiten, andere Hände drücken, Scheitel streicheln, rührende Geschenke
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