Scheinbar verliebt
hatten, wo sie sonst hingehen konnten. Obwohl der Staat bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr noch eine kleine Unterstützung anbot, nutzten das die wenigsten, sondern versuchten, selbst über die Runden zu kommen. Und da es sowieso viel mehr Heimkinder als Pflege- oder Adoptivfamilien gab, landeten immer mehr Kinder auf der Straße. Es war eine nationale Epidemie, von der die meisten Menschen nichts wussten. Diese Ungerechtigkeit entfachte immer wieder Lucys Ärger.
Morgan erwartete, dass Lucy dem Mädchen nun überzeugende Argumente bot, um sich doch für einen Aufenthalt hier zu entscheiden. „Warum machen wir nicht einfach einen kleinen Rundgang?“
„Warum nicht.“
Lucy und Marinell ließen Morgan im Büro zurück und gingen durch die Eingangshalle. Zuerst zeigte Lucy das große, lichtdurchflutete Wohnzimmer. „Wir hatten große Unterstützung von der Kirchengemeinde hier, die uns bei der Einrichtung geholfen hat. Hier hängen die Mädchen abends rum, schauen Filme oder machen Hausaufgaben. Jeden Mittwochabend haben wir hier unseren Bibelkreis.“ Während sie selbst ihren Blick durch den Raum schweifen ließ, musste sie den beängstigenden Gedanken verdrängen, dass sie all das bald verlieren könnte. „Wir haben zwei Flure mit Schlafzimmern. Jeder Raum wurde von einem Gemeindemitglied ausgestattet. Das heißt, kein Raum gleicht dem anderen.“
Lucy knipste das Licht in einem der Zimmer an und betrat den Raum.
Marinell konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“
„Es ist cool, oder? Das ist unser letztes freies Zimmer.“
Marinell fuhr vorsichtig mit der Hand über die cremefarbene Tagesdecke auf dem Bett, dann über die bedruckten Kissen.
„Erzähl mir von deiner Familie.“ Jedes Mädchen, das durch Lucys Tür kam, hatte seine eigene Geschichte.
Marinell betrachtete ein Bild an der Wand. „Meine Mutter ist vor ein paar Jahren hierher gezogen. Mein Bruder ist krank geworden und sie hat ihren Job verloren. Als einer von meinen Lehrern rausgefunden hat, dass wir kein Haus mehr haben, hat uns der Staat einkassiert.“
„Und wo ist dein Vater?“
„Weg.“ Marinell zuckte mit den Schultern, als mache es ihr nicht sonderlich viel aus. „Bekommen wir hier auch Essen?“
„Ja. Und ihr lernt, wie man kocht.“ Dank einiger Freiwilliger hatten die Mädchen die Chance, wichtige Dinge zu erlernen, wie zum Beispiel Kochen oder wie man mit seinem Geld umging.
Als sie zurück in den Flur gingen, konnte Lucy sich kaum auf das Gespräch konzentrieren. Ihr Verstand ratterte. Sie brauchte Zeit. Sie musste Telefonate führen, Unternehmen kontaktieren. Sie musste neue Spender finden. Und das alles sehr schnell.
Lucy führte Marinell zurück in ihr Büro, doch das Mädchen blieb erstaunt stehen. „Was ist das?“ Marinell zeigte auf eine gleichmäßige Reihe von leichten Vertiefungen im abgenutzten Holz des Fußbodens.
„Saving Grace war bis vor ein paar Jahren ein Konvent.“ Bei diesem Gedanken wurde ihr immer wieder warm ums Herz. „Hier haben die Nonnen gebetet. Diese Vertiefungen sind durch die vielen Stunden entstanden, die die Frauen auf ihren Knien verbracht haben.“
„Ehrlich?“
Lucy nickte. „Ich mag den Gedanken, dass die Schwestern sich sicher über das gefreut hätten, was wir hier tun. Diese Vertiefungen erinnern mich daran, dass auch ich nichts erreichen kann, wenn ich mich nicht immer wieder auf Gott besinne.“
„Meine Eltern sind katholisch. Ähm, meine Mutter, meine ich.“
„Aber du nicht?“, fragte Lucy.
Marinell wandte ihren Blick vom Boden ab. „Ich bin gar nichts.“
Lucy tauschte einen raschen Blick mit Morgan aus, bevor sie dem Mädchen ihre Karte gab. „So kannst du mich erreichen. Wenn du irgendetwas brauchst, ruf mich an – Tag und Nacht.“ Als sie Marinell die Karte in die Hand drückte, spürte sie die warme Haut und das junge Leben, das in dem Mädchen pulsierte. Bitte hilf mir, sie zu retten. „Wir würden uns freuen, wenn du hier einziehen würdest, Marinell.“ Lucy lächelte. „Und wir würden uns freuen, deine neue Familie zu sein.“
„Wissen Sie, wie viele Leute das schon zu mir gesagt haben?“ Marinell hob herausfordernd ihr Kinn. „Ich brauche jemanden, der mich aushält, wie ich bin. Es bringt mir nichts, wenn das hier nur wieder ein Ort mehr ist, der mich irgendwann fallen lässt.“
Morgan lächelte. „Dann habe ich dich genau an den richtigen Ort gebracht.“ Lucy lauschte den Worten ihrer
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