Schließe deine Augen
dieser Art gibt es ein gemeinsames Ziel. Das Hauptziel eines verdeckten Ermittlers. Der Erfolg im Hinblick auf alle anderen Ziele der Operation hängt davon ab, ob Sie dieses vorrangige Ziel erreichen. Ihr Leben hängt davon ab. Also, welches Ziel meine ich damit?«
Fast eine halbe Minute lang herrschte absolutes Schweigen, und die Bildung nachdenklicher Stirnfalten blieb die einzige Bewegung. In der Gewissheit, dass die Antworten schon kommen würden, ließ Gurney seinen Blick über die Umgebung wandern: die Betonwände mit mattbeigem Anstrich, den PVC -Plattenboden, dessen hell- und dunkelbraunes Muster die abgewetzten Stellen kaschierte; die langen, grau gesprenkelten, vom Alter schäbigen Resopaltische, an denen jeweils zwei oder drei Leute saßen; die orangefarbenen, in ihrer Grellheit merkwürdig deprimierenden Plastikstühle mit röhrenförmigen Chrombeinen, die unter den groß gewachsenen, muskelbepackten Polizisten verschwanden. Mit seiner Ansammlung architektonischer Grausamkeiten aus den siebziger Jahren bot der Raum einen trostlosen Widerhall auf Gurneys letztes Revier in der Stadt.
»Das Sammeln genauer Informationen?«, kam es von einem fragenden Gesicht in der zweiten Reihe.
»Eine einleuchtende Auffassung«, erwiderte Gurney ermutigend. »Sonst noch jemand?«
Darauf folgte rasch ein halbes Dutzend Vorschläge, zumeist aus der vorderen Hälfte, und überwiegend Variationen des Themas ›genaue Informationen‹.
»Andere Ideen?«
»Das Ziel ist, die Kriminellen von der Straße zu holen.« Ein müdes Murren aus der letzten Reihe.
»Verbrechen verhindern«, meinte ein anderer.
»Die Wahrheit rausfinden, die ganze Wahrheit, Fakten, Namen, was läuft ab, wer macht was mit wem, was ist geplant, wer ist der Macher, wer sitzt an der Spitze der Nahrungskette, dem Geld folgen, solche Sachen. Im Grunde muss man alles erfahren, was es zu erfahren gibt, ganz einfach.« Der dunkelhaarige, drahtige Mann, der diese Litanei mit verschränkten Armen herunterratterte, saß direkt vor Gurney. Sein Grinsen brachte zum Ausdruck, dass damit alles zum Thema gesagt war. Auf seinem Namensschild stand »Det. Falcone«.
»Weitere Anregungen?« Gurney spähte in die entfernteren Ecken des Raums. Der Drahtige wirkte genervt.
Nach einer langen Pause meldete sich eine der drei anwesenden Frauen mit leiser, aber selbstbewusster Stimme. Sie hatte einen leicht lateinamerikanischen Akzent. »Vertrauen gewinnen und bewahren.«
»Wie war das?« Die Frage kam aus drei Richtungen gleichzeitig.
»Vertrauen gewinnen und bewahren.« Sie sprach ein wenig lauter.
»Interessant«, bemerkte Gurney. »Warum soll das das wichtigste Ziel sein?«
Sie deutete ein Achselzucken an, als läge die Antwort auf der Hand. »Wenn man das Vertrauen der Leute nicht hat, hat man gar nichts.«
Gurney lächelte. »Wenn man das Vertrauen der Leute nicht hat, hat man gar nichts. Sehr gut. Ist jemand anderer Ansicht?«
Niemand hatte etwas einzuwenden.
»Natürlich wollen wir die Wahrheit herausfinden«, sagte Gurney. »Die ganze Wahrheit mit allen belastenden Einzelheiten, da hat Detective Falcone vollkommen recht.«
Der Mann beäugte ihn kalt.
Gurney fuhr fort. »Aber wie die Kollegin es so schön ausgedrückt hat: Was haben wir, wenn wir kein Vertrauen haben? Nichts. Vielleicht sogar was Schlimmeres als nichts. Vertrauen kommt also zuerst – immer. Setzen Sie das Vertrauen an die erste Stelle, und Sie haben gute Chancen, die Wahrheit aufzuspüren. Setzen Sie das Aufspüren der Wahrheit an die erste Stelle, und Sie haben gute Chancen, eine Kugel in den Hinterkopf zu kriegen.«
Mehrere Leute nickten, die Aufmerksamkeit stieg.
»Damit kommen wir zur zweiten großen Frage heute. Wie macht man das? Wie stellt man so viel Vertrauen her, dass man nicht nur am Leben bleibt, sondern mit der verdeckten Ermittlung auch Erfolg hat?« Gurney spürte, wie er sich für das Thema erwärmte. Sein Elan wuchs und sprang auf das Publikum über.
»Vergessen Sie nie, dass Sie es in diesem Spiel mit von Natur aus misstrauischen Leuten zu tun haben. Manche von diesen Kerlen sind äußerst impulsiv. So jemand kann Sie ohne Weiteres niederschießen und ist unter Umständen auch noch stolz darauf. Diese Leute leben von ihrem schlechten Image. Sie wollen gerissen, rücksichtslos und entschlossen erscheinen. Wie kriegt man solche Leute dazu, dass sie einem vertrauen? Wie überlebt man lang genug, um eine lohnende Operation durchzuführen?«
Diesmal kamen die Antworten
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