Schnee an der Riviera
Lojacono stand in ihrem Büro und rang nach einer geistreichen Bemerkung.
»Ihr Frauen seid viel zu emotional«, sagte er kopfschüttelnd und sah Valeria herausfordernd an. »Das ist eure Schwäche: Kaum geht’s um eure Kinder, verliert ihr den Verstand.« Die stumme Verachtung der Sekretärin hielt ihn von weiteren Kommentaren ab, und er trollte sich.
Das musisch orientierte Paul-Klee-Gymnasium lag im Zentrum, auf halber Höhe des Hügels, auf dessen Kuppe die obere Altstadt thronte. Man erreichte es über die Salita Bertani und eine breite, ziegelgepflasterte creuza 1 , die rechts in einen Torbogen mündete. Trat man aus dessen Schatten wieder heraus, tat sich dahinter einer der zahllosen versteckten und verwunschenen Winkel Genuas auf, die man, selbst wenn man unmittelbar nebenan wohnte, womöglich erst nach dreißig Jahren per Zufall entdeckte. Es war ein abgeschiedener, grüner, stiller Ort, unerreichbar mit dem Auto: lediglich eine Art breiter Bürgersteig, von dem ein etwas schmalerer Weg zum Eingang des Gymnasiums führte. Wie viele Gebäude der Altstadt war es gleich den Rängen eines zum Meer hin geöffneten Amphitheaters an den Berghang gebaut. Während sich über dem Portal nur wenige Stockwerke erhoben, reichten sie auf der anderen Seite bis hinunter zum Fuß des Hügels. Auf der Rückseite führte die Standseilbahn entlang, die das Zentrum mit dem Corso Magenta im oberen Stadtteil verband.
Wie oft hatte Nelly diesen Weg in den letzten Jahren zurückgelegt, um mit dem Direktor zu sprechen! Die berufliche Routine ließ sie vollkommen gefasst erscheinen, doch eine dumpfe Unruhe erfüllte sie. Zwei Jungs, vielleicht drei. Was bedeutete das? Weshalb sollte ausgerechnet Mau ...? Doch die Unruhe blieb. »Gleich bin ich schlauer«, sagte sie sich.
Der Polizeiwagen hielt auf dem Platz vor dem Santuario del Padre Santo. Nelly machte dem Fahrer Marcello ein Zeichen, zu warten, und lief die steile Straße hinunter. Sie hätte den Wagen auch unten herum fahren lassen können, wo sich die einzige Zufahrt zum Gymnasium befand, doch das hätte länger gedauert, und sie hatte keine Zeit zu verlieren. Dass sie keinen Herzinfarkt bekam, war allein ihrem regelmäßigen Jogging am Righi zu verdanken. In wenigen Sätzen war sie vor der Schule. Nucci kam ihr sofort entgegen. Er war von ihrer Ankunft in Kenntnis gesetzt worden und hatte vor dem Eingang bereits auf sie gewartet.
»Dottoressa Rosso, es handelt sich um zwei Jungs aus der 12 a; es gab eine Routinedurchsuchung mit Drogenhunden, und plötzlich ist das Chaos ausgebrochen.«
»Eine Routinekontrolle in der Schule meines Sohnes, und ich arbeite im Polizeipräsidium und weiß nichts davon, verdammt!«, dachte Nelly. Allerdings fiel dies nicht in ihr Ressort, um so etwas kümmerte sich Santangelo, Nuccis Chef.
»Und? Was ist passiert? Was meinst du mit Chaos?«
»Als die Mathelehrerin die Polizisten und Drogenhunde ankündigte, hat offenbar einer versucht, auf die Toilette zu flüchten. Die Lehrerin wollte ihn zurückhalten, er hat sie geschubst, sie ist mit dem Kopf aufgeschlagen und bewusstlos liegen geblieben, und da hat der Junge wohl Panik gekriegt, ein anderer ist ihm gefolgt, weshalb, weiß man nicht, und die beiden sind aufs Dach geflohen. Beinahe hätte ich das SEK gerufen, zur Sicherheit ...«
»Das SEK, du tickst wohl nicht mehr richtig, das hier ist doch kein amerikanischer Actionstreifen! Wie ... wie heißen die Jungs denn?«
»Francesco Bagnasco und Maurizio Tondelli.«
Nelly hatte es geahnt, aber es war trotzdem ein Schock. Sie hatte vom ersten Moment an gewusst, dass Mau irgendwie in die Sache verwickelt war, auch wenn es überhaupt keinen Grund zu der Annahme gab. Oder doch? Gibt es heutzutage nicht immer und auf jeden Fall einen Grund? Doch es blieb keine Zeit, um in der jüngsten Vergangenheit nach irgendwelchen Auffälligkeiten oder Verdachtsmomenten herumzustochern.
»Der eine ist mein Sohn. Maurizio Tondelli, um genau zu sein.«
Ihre Stimme klang neutral und fest.
»Himmel!«, rutschte es Nucci heraus.
In dem Moment erblickte Nelly Professor Giacometti, den Direktor. Auch er hatte sie gesehen und wiedererkannt und kam sichtbar erschüttert auf sie zu.
»Commissario ... Dottoressa ... es ist unglaublich, nicht zu fassen, so etwas an einer Schule ... und dann auch noch Maurizio ...«
Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung; dies war nicht der richtige Moment, um den Kopf zu verlieren.
»Wir müssen die in den Klassen
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