Schneeflockenbaum (epub)
Konsistorialzimmer dem rauschenden Kassettenrekorderpfarrer mit seinem makellosen apostolischen Spitzbärtchen schon mal die Hand zu drücken. Aber der Leichenwagen war noch immer nicht da. Weil die vornehmste Sorge meiner Mutter war, dass während der Trauerfeier nur Psalmen in der alten Bereimung gesungen wurden, bemerkte sie erst einmal nicht, dass Onkel Siem noch auf seinem Begräbnis fehlte.
»Können wir nicht schon mal anfangen?«, fragte ich den Pfarrer.
»Äußerst unüblich«, sagte der. »Ein Sarg vorne in der Kirche ist doch wohl das Mindeste.«
»Wo bleibt der Wagen nur?«, sagte mein Bruder.
»Gibt es hier in der Gegend einen Ort, dessen Name so ähnlich klingt wie Baflo?«, fragte ich den Pfarrer. »Könnte er nicht dort hingefahren sein?«
»Balloo vielleicht«, erwiderte der Pfarrer.
»Möglicherweise steht der Wagen dort vor der reformierten Kirche?«, mutmaßte mein Bruder.
»Balloo hat keine reformierte Kirche«, sagte der Pfarrer.
»Wissen Sie das genau? Ein Ort in den Niederlanden ohne reformierte Kirche? Da will ich hinziehen«, sagte mein Bruder.
Heutzutage ist es nicht unbedingt ein Problem, wenn etwa ein Leichenwagen nicht auftaucht. Schließlich hat jeder ein Handy. Der Busfahrer rief seinen Kollegen an, doch der ging nicht ran.
»Der vertritt sich die Beine, und sein Handy liegt in der Mittelkonsole. Und im Wagen ist natürlich niemand, der rangehen könnte. Aber gut, ich werde es weiter probieren.«
Als alle bereits in der Kirche Platz genommen hatten, wusste immer noch keiner, wo sich die sterblichen Überreste von Onkel Siem herumtrieben. Der Organist improvisierte ausführlich über Psalm 103, »Wie das Gras ist unser kurzes Leben«, und ich dachte: Auch hier, wie fast überall, so ein Tastendrücker, der nicht hört, wie elendig sein Geklimper klingt.
Dann mengte sich eine dröhnende Hupe unter die dunklen Basstöne des Sechzehn-Fuß-Pedalregisters der Orgel.
»Das werden sie sein«, sagte ich. »Gott sei Dank, Mutter hat noch nichts gemerkt.«
Wir sangen einen Psalm nach dem anderen in der alten gereimten Form, sodass nicht nur ich, sondern vor allem auch meine Mutter alle auswendig mitsingen konnte. Sie lebte dabei gewaltig auf. Als sie von der Kirche direkt hinter dem Sarg zwischen meinem Bruder und mir zum Grab schritt, sagte sie strahlend: »Wie herrlich, alle Psalmen mit den alten Reimen.«
Mit einem Lächeln auf den Lippen beobachtete sie, wie ihr zweiter Gatte in die Grube sank, und als mein Bruder und ich, nach Kaffee und Kuchen in einem Nebenraum der Kirche, unsere unglaublich schwierige logistische Aufgabe befriedigend gelöst hatten und alle wieder im Bus saßen, da murmelte sie bei der Abfahrt aus Baflo noch einmal: »Alte Bereimung.«
Dann sagte sie: »Und glaub nicht, ich hätte nicht gesehen, dass du alle Lieder auswendig mitgesungen hast. Der Herrgott hat dich noch längst nicht losgelassen. Deinen Bruder schon. Der Herrgott weiß inzwischen, dass der ein hoffnungsloser Fall ist, aber dich hält er noch immer am kleinen Finger.«
»In der Bibel sind aber immer die älteren Söhne die Bösen«, erwiderte ich, »Kain und Abel, Esau und Jakob. Und der verlorene Sohn ist auch der Jüngere der beiden. Mit Pleun wird es also bestimmt noch gut enden.«
»Der Herr hat sie mir in umgekehrter Reihenfolge geschenkt, erst Abel, dann Kain, erst Jakob, dann Esau.«
»Ach, mach dir nichts vor«, entgegnete ich, »du weißt doch, dass ich, auch wenn mein Kopf kahl ist, am ganzen Körper ebenso behaart bin wie Esau, während sämtliche Haare, die Pleun besitzt, ausschließlich auf seinem Schädel wachsen.«
»Ja, er hat einen hübschen Kopf mit seinen schwarzen Locken«, sagte sie stolz, »genau wie meine Brüder und mein Vater.«
Ramponierte Hosenträger
S iebzig Jahre lang war Psalm 141, Vers 3, der Leitspruch meiner Mutter gewesen. »Herr, behüte meinen Mund, schütz meiner Lippen Türe, auf dass ein unbedachtes Wort mich nicht ins Elend führe.« Zum Ausgleich dafür, dass sie so selten sprach, sang sie den ganzen Tag über bei allem, was sie tat, pianissimo Psalmen, die sie praktisch auswendig konnte, alle einhundertfünfzig. Hörte sie, was nicht oft geschah, jemand anderen etwas sagen, das ihr gefiel, dann sagte sie entschieden: »So ist es«, und summte leise den nächsten Psalm.
Ob sie das Sprechen in ihrer Jugend verlernt hat, ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass ihre Mutter die mit Abstand gesprächigste Frau in der riesengroßen Verwandtschaft
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