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Schneeflockenbaum (epub)

Schneeflockenbaum (epub)

Titel: Schneeflockenbaum (epub) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marten t Hart
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gebracht werden. Zum Arbeitseinsatz. Am frühen Morgen bereits war Riekie gekommen, die Hebamme, und am Mittag sagte sie zu deinem Vater: ›Das wird eine schwierige Geburt, ich schaff das nicht allein, eigentlich müsste deine Frau ins Krankenhaus.‹ Ins Krankenhaus, das sagt sich so leicht. Das nächste Krankenhaus war in Schiedam, zwanzig Kilometer entfernt. Dorthin, mitten im Winter, ohne Auto? Krankenwagen fuhren auch keine mehr. Das ging also nicht. Das sah Riekie auch ein. ›Wenn wenigstens ein Arzt hier wäre‹, sagte sie. ›Ist in Ordnung‹, sagte dein Vater, ›ich werde ihn holen.‹ Er ging also los, und das, während die Razzia im vollen Gange war und er Gefahr lief, einkassiert zu werden. Zweimal wurde er unterwegs angehalten, und jedes Mal hat er es geschafft, den Scheißmoffen klarzumachen, dass er wirklich nicht mitgehen konnte, weil er auf der Suche nach einem Arzt war, der bei einer schwierigen Geburt helfen musste. Am späten Nachmittag brachte er dann Doktor Jansen mit. Auf den hättest du mal besser kurz gewartet, aber nein, du wolltest unbedingt raus, und darum hat Riekie, die inzwischen am Ende ihres Lateins war, mich komplett aufgeschnitten. Und wie du nach deiner Geburt ausgesehen hast! Dein Schädel war seltsam verformt. Du hattest einen länglichen Eierkopf. Deine Augen waren hinter den Wangen versteckt. Dein Mund war schief, und deine Ohren waren nirgends zu entdecken. Und eine Nase hattest du auch nicht, ach, es war schrecklich. ›Wenn das mal gut geht‹, sagte Riekie. Draußen war es schon dunkel, Licht machen, das ging nicht, und dann kam dein Vater nach Hause, mit Doktor Jansen. Der sah mich an, wie ich so dalag, komplett aufgeschnitten und überall Blut, und er sagte zu deinem Vater: ›Das sieht nicht gut aus.‹ Und dann, ich sehe es immer noch vor mir, als wäre es gestern gewesen, hat er sich die Hände gewaschen, einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal, sechsmal, siebenmal. Siebenmal hat er sich die Hände gewaschen, und nach jedem Waschen trocknete er sie sehr gründlich ab. Und dabei starrte er mich an. Pontius Pilatus war nichts dagegen. Damals war mir sein Verhalten schleierhaft. Heute denke ich: Er wusste nicht, was er tun sollte, und darum wusch er sich die ganze Zeit die Hände. Und ich lag da, fix und fertig, ich existierte kaum noch, ich war eine junge Frau von vierundzwanzig, die noch gar nicht so weit war, ein Kind zu gebären, aber es ist über mich gekommen, so wie es über so viele junge Frauen kommt, ohne dass man gefragt würde, ob man das leisten kann oder leisten will. Ich weiß noch genau, dass ich damals dachte: Nie wieder, nie, nie wieder, und darum habe ich mir deinen Vater danach sieben Jahre lang recht gut vom Leib gehalten, das heißt, ich habe immer zu ihm gesagt: ›Zieh ihn rechtzeitig raus.‹ Nach sieben Jahren ist es dann einmal schiefgegangen, und tatsächlich, ich war gleich wieder schwanger, mit deinem Bruder.«
    Als habe er auf das Wort »Bruder« gewartet, tauchte plötzlich neben uns im Gang einer der Brüder meiner Mutter auf. Er fragte mich: »Legen wir unterwegs noch irgendwo an, um den inneren Menschen zu stärken?«
    »Das musst du Pleun fragen, er ist heute der Verpflegungsoffizier.«
    Während sich mein Onkel mit meinem Bruder über die Stärkung des inneren Menschen unterhielt, flüsterte meine Mutter wütend: »Auch unterwegs noch die ganze Bagage beköstigen! Als wäre das alles nicht schon teuer genug.« Dann presste sie die Lippen wieder aufeinander und fiel zurück in die für sie übliche Rolle der schweigsamen Frau.
    Das versetzte mich in die Lage zu hören, was mein Onkel meinem Bruder anvertraute: »Also keine gemeinsame Mahlzeit? Wie schade! Gerne hätte ich nach der Suppe das eine oder andere über meine genealogischen Nachforschungen berichtet. Ihr würdet staunen. Es würde euer aller Leben auf den Kopf stellen.«
    Später am Tag brachte mein Bruder mich mit seinem BMW nach Hause. Unterwegs berichtete ich ihm von dem Gespräch mit unserer Mutter und dass wir das Nebenprodukt ramponierter Hosenträger seien.
    Mein Bruder fragte: »Ja, und? Bedrückt dich das?«
    »Es ist nicht sonderlich erhebend«, erwiderte ich.
    »Ach, hab dich nicht so, Hosenträger heben die Hose, was willst du mehr?«

Schlamm
    E in paar Wochen später fuhr ich mit dem Rad zu meiner Mutter. Würde sie mich, so fragte ich mich unterwegs, erneut mit bestürzenden Enthüllungen überraschen, oder würden ihre Lippen wie gewohnt versiegelt

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