Semmlers Deal
Wald-und-Wiesen-Feldstecher mit achtfacher Vergrößerung wären ihm die körpersprachlichen Details verborgen geblieben.
Und die Idee, die nun zu keimen begann, wäre nicht gekeimt.
Die beiden Erwachsenen schritten auf den Eingang zu, sie bei ihm eingehakt, nach ein paar Schritten blieben sie stehen, küssten sich. Wo war Karin? Schon aus dem Gesichtsfeld, Koslowski fand sie wieder, sie stand noch beim Auto, kramte eine Tasche vom Rücksitz, schaute sich dann nach ihrer Mutter und dem Liebhaber um. Koslowski erkannte die Falte auf der Stirn, so sah die empörte Karin aus, die etwas ablehnte, was ihren moralischen Grundsätzen widersprach,auch hasste sie vieles, was sich im modernen Leben nicht vermeiden ließ. Umweltzerstörung und Klimaerwärmung sowieso, aber auch kleine Fehlleistungen, deren sich schwache Menschen wie ihre Eltern schuldig machten. Entsorgung von Verbundverpackungen im Plastik- statt im Restmüll, Kauf von acrylamidhaltigem Salzgebäck. Kauf von T-Shirts aus kinderarbeitverdächtiger Produktion. Kauf überhaupt. Karin war das Produkt jahrelanger Indoktrination grüner Lehrpersonen, die den Kindern von der ersten Klasse die Realität des Bösen an der Umweltverschmutzung und die des Guten am Kampf gegen die Atomkraft verdeutlicht hatten. Koslowski hatte seinen Chemikerberuf nur mit einigem Aufwand rechtfertigen können; es kam eben darauf an, auch auf dem Sektor Umweltgefährdung mehr zu wissen als die halbgebildeten Lehrer; er hatte ihr den Betrieb gezeigt, und was dort alles unternommen wurde, Belastungen zu vermeiden. Karin war ein kluges Kind. Sicher im weitem Umkreis die einzige Fünfzehnjährige, die alle E-Nummern auswendig wusste. Ihr Verhältnis zu Koslowski war im Lauf der Jahre besser geworden als er am Anfang befürchtet hatte. Er war und blieb der Stiefvater, die Nummer zwei hinter der Mutter. Natürlich war sie bei der Mutter geblieben. Aber auch die Nummer zwei, dachte Koslowski, während er durchs Fernglas beobachtete, wie sie hinter den beiden Erwachsenen ins Haus trottete – auch die Nummer zwei lässt man sich nicht gern austauschen, einfach so, ohne zu fragen. Und schon gar nicht auf diese Weise. Austauschen gegen einen reichen Protz, der nichts anderes versuchen würde als sie zu kaufen. Die blaue Bluse hatte er noch nie an ihr gesehen; in beiden Händen trug sie je eine jener reißfesten Riesenplastiktaschen, die man in hiesigenModegeschäften mitbekam, um ein einzelnes Paar Jeans zu transportieren; an Ursula waren ihm die Taschen nicht aufgefallen, sie kam immer damit heim, wenn sie in der Stadt gewesen war. Ihr würden sich in punkto Shoppen nun ganz andere Dimensionen auftun, dachte Koslowski; Semmler würde sich den Wünschen seiner Geliebten nicht entgegenstellen. Der hatte die Haustür aufgesperrt, die Damen traten ein, er selber kehrte zum Auto zurück und entnahm dem Kofferraum ein halbes Dutzend ähnlicher Gebinde und rannte – tatsächlich: er rannte – hinter den Frauen her ins Haus.
Koslowski verstaute das Glas, stieg aufs Rad und folgte dem Waldweg. Zurückfahren wollte er nicht an dem Block vorbei. Er würde seine Stieftochter besuchen. Wenn sie ihn eingeladen hatte. Sie brauchte nicht zu wissen, dass er die Adresse schon kannte. Er musste das sorgfältig einfädeln. Er musste ihr ein bisschen Zeit lassen, ein bisschen Freude an den schönen, neuen Kleidern. Besitz ist schal, dachte er, aber nicht von Anfang an, das vergessen die Grünapostel, dachte er, erst ist er wunderbar, der Besitz, erst später fängt er an, schal zu schmecken. Für Menschen wie Karin. Denn am meisten von allem hasste sie die Ungerechtigkeit. Bei jeder Frage, jedem Problem kam es nur darauf an, festzustellen, ob ein Unrecht geschehen war, und wenn ja, wem. Danach richtete sich Karin. Ein einfaches Analysesystem mit dem Vorteil universeller Gültigkeit. Wie Lackmuspapier. Rot bei Säure, blau bei Lauge, unverändert bei neutralem pH. Damit ließ sich alles testen. Auf den Säuregrad. Anderes kam nicht in Betracht, der Gehalt an Mangan oder Dioxin. Wer nur ein Lackmuspapier hat, für den ist alles Säure oder Base.
Im vorliegenden Fall würde Karin auf die Grenzen desRecht-Unrecht-Lackmustests stoßen. Das Papier blieb unverändert; niemandem war Unrecht geschehen, niemandem Recht, dass dies nicht stimmen konnte, schwante ihr schon. Der Test versagte. Ihre Mutter hatte den Stiefvater verlassen. Wegen eines anderen Mannes. Durfte sie das? Koslowski war nicht ihr leiblicher Vater.
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