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Semmlers Deal

Semmlers Deal

Titel: Semmlers Deal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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verheilt.
    Wie geht’s in der Schule? Was für eine Frage. Wie immer.Gut. Im Leben ging es schlecht. Ihr und ihm auch. Es liegt daran, dachte sie, dass wir Freaks sind. Nicht blutsverwandt, aber Freaks, das gibt es ja. Das erklärte auch die ursprüngliche Anziehung zwischen Koslowski und ihrer Mutter, denn ihre Mutter war auch ein Freak. Und dieser Semmler war auch einer, es genügte, sich das Haus anzusehen. Und der Vater, der richtige? Der war ein stinknormaler Mensch, früher Student, jetzt leitender Angestellter einer Versicherung; sie kannte ihn, er kannte sie, da gab es weder Hass noch Vorbehalte, nur eine unendliche Langeweile bei Pflichtbesuchen, die auszusetzen niemand den Mut hatte. Ihrer Mutter ging es ähnlich mit ihm, die beiden schienen nicht zu wissen, wie um alles in der Welt sie zueinander gekommen waren. Auch nur ein paar Monate lang. Ihr leiblicher Vater war kein Freak, aber sonst war sie von merkwürdigen Gestalten umgeben. Wahlverwandtschaften. Karin bewunderte Goethe. Sie las Goethe. Sie besaß die Hamburger Ausgabe. Sie war nicht ganz normal, das wusste sie.
    Aber jetzt hatte sie ein Problem, ein Gerechtigkeitsproblem. Ihr Vater wurde ungerecht behandelt. Von ihrer Mutter, von Semmler, von seiner Firma, von anderen Leuten, die sie nicht kannte, möglich war das. Und es spielte keine Rolle, dass sie alle es nicht aus Absicht taten oder ohne gute Gründe – sie hatten alle Gründe, die sie für gut hielten; das Problem lag nur in der Sache selbst. Unrecht. Unrecht ist Unrecht ist Unrecht. Und wird durch kein Herumgeeiere Recht, so viel man es auch probiert, sondern muss beseitigt werden, ausgetilgt. So einfach war das. Es passte dazu, was ihr jetzt einfiel, während ihr Stiefvater seinen Gugelhupf aß, winzige Stückchen mit einer Kuchengabel. Früher hatte er abgebissen.
     
    ›Feiger Gedanken
    Bängliches Schwanken,
    Weibisches Zagen,
    Ängstliches Klagen
    Wendet kein Elend,
    Macht dich nicht frei.
     
    Allen Gewalten
    Zum Trutz sich erhalten,
    Nimmer sich beugen,
    Kräftig sich zeigen,
    Rufet die Arme
    Der Götter herbei.‹
     
    An dem Gedicht war sie beim Lesen irgendwann hängen geblieben, hatte es auswendig gelernt. Davon wusste niemand. Es gefiel ihr, der hohe Ton, der geheimnisvolle Schluss. Die Arme der Götter herbeirufen. Was sollte das heißen? Sie verband nichts Religiöses damit und war davon überzeugt, Goethe hatte das auch nicht getan; es war eine Metapher. Es musste etwas Großes sein, dachte sie, eine Handlung, die ein Mensch nicht leicht begeht, die einem normalen Menschen nicht einmal in den Sinn kommt – um den Kampf zu bestehen, der in dem Gedicht angesprochen war. ›Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten.‹ Das Gedicht passte nicht auf ihre Situation. Da gab es keine Gewalten, denen sie die Existenz abtrotzen müsste. Aber es passte auf Koslowski. Sie schaute sich in der Küche um. Nun erkannte sie, was dieses wässrige Grau hervorbrachte, das wie ein Schleier auf den Dingen lag. Es war Dreck. Eine dünne Schicht von gewöhnlichem Haushaltsschmutz, wie er sich im Lauf der Wochen ansammelt,wenn nicht sauber gemacht wird. Sie fuhr mit dem Finger über den Rand der Tischplatte. Das Material fühlte sich klebrig an. Ekelhaft. Er hatte ihre Geste bemerkt.
    »Ich sollte einmal gründlich putzen«, sagte er, »ich weiß schon ...« Die Stimme blieb oben, aber er sprach nicht weiter, als habe er mitten im Satz vergessen, was er sagen wollte. Konnte auch sein, dass er sich schämte, das auszusprechen, was noch fehlte. Etwa: ... aber ich kann es nicht selber und habe kein Geld für eine Putzfrau. Oder: ... aber es ist mir egal, weil mir inzwischen alles egal ist. Das wäre übler. Karin klammerte sich an die erste Version. ›Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten.‹
    »Du brauchst Geld«, sagte sie. Er blickte auf.
    »Ja«, sagte er. Sonst nichts.
    »Du kommst nicht aus damit ...«
    »Ich hab die Pension, die Abfertigung ... aber die ist für ... wenn einmal etwas passiert ...« Er machte eine Pause, um ihr Gelegenheit zu geben, sich auszumalen, was Schreckliches ihrem Papa passieren könnte.
    »... das kann ich nicht für eine Putzfrau ausgeben. Ein bisschen Reserve sollte schon sein.« Von den tausend Euro, die er extra von Ursula erhielt, sagte er nichts. Weder sie noch Semmler hatten diese Zahlung Karin gegenüber erwähnt, da war er sicher. Er würde es auch nicht tun. Dass sie von selber so schnell aufs Geld gekommen war, überraschte ihn; die größte Schwierigkeit

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