Shiver - Meine Rache Wird Euch Treffen
»Mama! Mama!«, hatte sie geschluchzt, bis kräftige Hände und Arme sie trotz ihrer heftigen Gegenwehr wegzerrten.
Abby blinzelte und gab sich einen innerlichen Ruck. »Herrgott«, flüsterte sie und schüttelte die grausige Vision ab, die sie seit zwanzig Jahren heimsuchte. Plötzlich wurde ihr bewusst,dass der Wasserhahn über der Spüle tropfte. Statt ihn zuzudrehen, öffnete sie ihn weiter, so dass das Wasser aus dem Hahn schoss. Rasch hielt sie die Hände unter den Strahl und spritzte sich Wasser ins Gesicht, kühlte die Wangen, verdrängte die entsetzliche Erinnerung und wünschte sich, den Horror jener Nacht für immer abwaschen zu können.
Mit zitternden Händen nahm sie ein Geschirrtuch vom Küchentresen und wischte sich das Gesicht ab. Was war los mit ihr? Hatte sie sich nicht eben noch vorgenommen, diesen schmerzhaften Weg in die Vergangenheit nie mehr zu gehen? »Blöde Kuh«, knurrte sie, legte das Geschirrtuch zusammen, bemerkte das halbvolle Weinglas auf dem Tresen und spürte, dass irgendetwas mit ihr nicht in Ordnung war.
»Reiß dich zusammen«, flüsterte sie in das leere Zimmer hinein und hob das Stielglas, als stünde ihr jemand gegenüber. Sie trank einen Schluck von dem herben Chardonnay.
»Auf uns.« Ihre Mutter hatte immer gesagt, sie, Abby, sei etwas Besonderes, und die Tatsache, dass sie am Geburtstag ihrer Mutter zur Welt gekommen war, würde sie besonders eng miteinander verbinden, sie seien zwei vom gleichen Schlag.
Nun ja … nicht ganz.
Ganz und gar nicht.
Absolut nicht.
»Und jetzt … geh bitte«, flüsterte sie. »Lass mich in Ruhe.«
Sie leerte ihr Glas, verkorkte die Flasche und stellte sie ins Flaschenregal in der Kühlschranktür. Sie hatte keine Zeit mehr für Albträume, die den Verstand lähmten, für eine Vergangenheit, die sie manchmal nahezu vernichtete. An diesem Abend sollte das alles vorbei sein.
Entschlossen, ihr Leben in die richtigen Bahnen zu lenken, stellte sie das Glas viel zu hastig auf den Tresen. Es knackte,der Stiel zerbrach, sie schnitt sich in die Daumenkuppe.
»Toll«, knurrte sie, als Blut hervorquoll. Das fehlte ihr gerade noch. Sie öffnete eine Schranktür und griff nach einem Päckchen Pflasterstreifen. Blut tropfte auf die Arbeitsfläche. Sie öffnete das kleine Päckchen und musste feststellen, dass es nur noch zwei Pflasterstreifen in Übergröße enthielt. Umständlich löste sie einen Streifen aus der sterilen Verpackung und wickelte ihn zwei Mal um ihren Daumen.
Sie wischte den Tresen ab und warf das zerbrochene Glas in den Mülleimer, dann ging sie durch einen Vorraum in die Garage und machte Licht. Dort lehnte an einem Holzstapel ein Schild mit der Aufschrift
Vom Eigentümer zu verkaufen
. Abby hob es auf und trug es zum Ende der langen Zufahrt. Sie hängte das blauweiße Schild an die Haken des Pfostens, den sie am Spätnachmittag dort aufgestellt hatte.
»Perfekt«, sagte sie zu sich selbst, wenngleich der bevorstehende Verkauf des Hauses sie mit leiser Wehmut erfüllte. Hier war der Ort gewesen, an dem sie schon einmal einen Neuanfang unternommen hatte, ein Hafen, den sie als idealen Rückzugsort zur Rettung einer gescheiterten Ehe ausgewählt hatte, ein stilles Refugium, in dem sie viele Hoffnungen, viele Träume genährt hatte. Sie hatte sich selbst die Daumen gedrückt, als sie und Luke dieses Haus kauften. Sie hatte darum gebetet, dass sie hier ihr Glück finden würden.
Wie dumm sie gewesen war! Abby betrachtete das Haus – ein kuscheliges, kleines, etwa hundert Jahre altes Fachwerkhaus mit Ziegeldach. Es lag weit abseits der Landstraße. Die ursprüngliche Bausubstanz war erneuert, es war vergrößert und nachgebessert worden, so dass das Haupthaus jetzt aus zwei kleinen Schlafzimmern, einem Bad und einem Dachgeschoss bestand, das sie zu ihrem Arbeitszimmer ausgebaut hatte. Das Nebengebäude war vormals als Einliegerwohnunggedacht gewesen, und Abby hatte sich dort ihr Atelier, die Dunkelkammer und ein zweites Bad eingerichtet.
Vor fünf Jahren hatten sie und Luke diese Immobilie entdeckt und für »ideal« erklärt. Mehrere Jahre hatten sie dort verbracht, bis alles auseinanderbrach. Irgendwann war er ausgezogen zu anderen Frauen … nein, Moment mal. Es war umgekehrt. Zuerst kamen die Frauen. Angefangen mit Zoey. Noch vor der Hochzeit.
Nicht, dass es jetzt noch wichtig war.
Luke Walter Gierman, vormals ein geachteter Nachrichtensprecher und Discjockey im Radio, wurde zu New Orleans’ Version des Skandalmoderators
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