Splitterfasernackt
dass es keine besonders großartige Leistung ist, auf einer Bank zu sitzen. Dazusitzen, stillzusitzen, sitzen zu bleiben, rumzusitzen und Zeit abzusitzen. Aber darum ging es schließlich auch nicht. Es geht im Leben nie darum, an einer Bushaltestelle zu sitzen und zu warten, das wäre zu einfach.
Wir haben kein Wort geredet, kein einziges Wort.
Wir haben nur den vorbeifahrenden Autos und Bussen zugesehen, den Fußgängern und den Radfahrern. Irgendwann hat das Mädchen mir die Flasche mit dem Wasser hingehalten, für ein paar Sekunden haben sich unsere Blicke berührt. Ihre Augen waren goldbraun wie meine.
Das Wasser ist weich und kühl durch meinen trockenen Hals gestrichen, und als ich ihr die Flasche zurückgab, hielt das Mädchen mir die Tüte mit den Weintrauben hin. Ich habe siebzehn Trauben gegessen, eine für jedes Jahr vor unseren gestohlenen Tagen. Für die Jahre danach habe ich mich nicht getraut, eine Traube zu nehmen, denn es sind nicht mehr meine Jahre, sie gehören Ana und Mia. Das Mädchen hat auch ein paar Weintrauben gegessen. Aus den Augenwinkeln habe ich ihre dürren Arme betrachtet und ihre zarten schlanken Finger – sie war bestimmt so gut im Verhungern wie ich. Die Narben an ihrem Hals waren kaum zu sehen und auch die Brandmale auf ihren Handgelenken nicht. Sie konnte gut retuschieren; aber ihre Wunden habe ich trotzdem sofort bemerkt. Wie könnte ich solche Wunden jemals übersehen.
Irgendwann fing es an zu dämmern.
Alle Tage gehen vorbei – auch die, die wir nie vergessen.
Zum Abschied haben wir uns noch einmal angesehen. Sie war wunderschön und traurig; sie war sanftmütig, still und zärtlich, und ihre Wut war nur ein unruhiges Frösteln. Sie hat kein einziges Mal gelächelt, aber ihre Augen waren warm zu mir. Ihr Körper war winzig, versteckt in einem viel zu großen verwaschenen Pullover. Ihre Bewegungen waren leicht, fast nicht zu bemerken, wie hinter einem Schleier ausgeführt. Und ihr Bestehen war mir unglaublich vertraut.
Es war nicht nötig, etwas zu sagen. Es gibt Dinge, die kann man nicht benennen.
Ich habe meine Kette abgenommen, die silberne Kette mit dem kleinen glitzernden Stern, die Chase mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, und dann bin ich einen Schritt auf das Mädchen zugegangen und habe ihr meine Glückskette um den Hals gelegt. Der Verschluss hat leise geklickt, als ich ihn in ihrem Nacken geschlossen habe, und meine Finger haben gezittert, als ich ganz sanft meine Hand zurückgezogen habe und dabei über die Konturen einer ihrer Narben gestrichen habe. Das Mädchen hat sich auf ihre Lippen gebissen und an mir vorbeigesehen. Dann hat sie die Schleife von ihrem Armband geöffnet, nach meiner linken Hand gegriffen und das weiß-blaue Band um mein Handgelenk geschlungen. Ihre weißen Finger haben sich eisig kalt angefühlt, genauso kalt wie meine. Sie hat mit leichten Bewegungen die Enden verknotet und dann für einen kaum merklichen Moment ihre Fingerspitzen auf meinen vernarbten Schnitten ruhen lassen.
Mein Lächeln war unvollkommen und winzig. Aber ich bin mir sicher, dass sie es gesehen hat. Die Sonne ging unter und die Straßenlaternen als Entschädigung an. Ich hatte schreckliches Heimweh. Ein Bus fuhr an uns vorbei, der Fahrer rief uns zu, ob wir nicht einsteigen wollten, aber weder sie noch ich haben ihm geantwortet.
Dann war es an der Zeit, sich loszureißen. Wir haben uns voneinander abgewandt und sind zurück in die Richtungen gegangen, aus denen wir gekommen waren.
Danach haben wir uns nie wieder gesehen. Und ich habe seither immer einen weiten Umweg um diese Bushaltestelle gemacht.
Aber wenn ich Weintrauben esse, dann muss ich manchmal weinen. Was für ein wunderschönes Wortspiel.
In dieser klangvollen Welt.
Ja. Das Bestehen danach.
Davonkommen.
Ist ein hässlich verpacktes Geschenk.
4
A n dieser Stelle ist es kein Geheimnis mehr, dass ich Freitage hasse. Und Samstage auch. Während Sonntage mir immer das Gefühl geben, in einem luftleeren, glasverkleideten Raum gefangen zu sein, mit weißen Hörnern auf meinem Kopf, die mich eindeutig als Freak kennzeichnen. Unterdessen stehen wichtigtuende Ärzte und Professoren um mich herum und drücken ihre Nasen an den Glaswänden platt, um mich auch ja ordentlich mustern zu können. Sie krakeln aufgeregt Notizen in ihre Hefte, sie legen nachdenklich ihre Köpfe schief, sie tuscheln, sie haken ab – sie tun sinnlose Dinge.
Und ich verharre. Atemlos.
Wie schon gesagt: ein
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