Die Frauen von Nell Gwynnes
Kapitel 1
In welchem Folgendes bekannt wird:
In der Stadt Westminster, in der Nähe des Birdcage Walk, im Jahre des Herrn 1844.
H ier gab es einst eine Privatresidenz mit Blick auf den St. James ’ s Park. Bei den Londoner Kaufleuten war bekannt, dass dort eine redliche Witwe lebte, die ihre Rechnungen allzeit rasch beglich. Bettler konnten sich auf ihre Barmherzigkeit verlassen, wenn sie nicht zu aufdringlich waren, worauf sie peinlichst achteten, denn die Dame war sozusagen eine der ihren: Sie besass kein Augenlicht.
Dann und wann konnte man Mrs. Corvey beobachten, wie sie mit ihrer dunklen Brille und ihrem Gehstock am Arm ihres erwachsenen Sohnes Herbert durch die angenehme Luft des Parks flanierte. Man wusste ausserdem, dass sie mehrere Töchter hatte, wobei deren genaue Anzahl unklar blieb, und dass auch ihre jüngere Schwester in dem Anwesen residierte. Möglicherweise handelte es sich auch um ein Paar jüngerer Schwestern; auch eine unverheiratete Schwägerin lebte dort, und obwohl die Töchter die Schulbank bereits verlassen hatten, blieb ihre Gouvernante dennoch im Hause angestellt.
In jeder anderen Gegend hätte es vermutlich ungebührende Spekulationen über die ungewöhnlich grosse Anzahl von Frauen unter einem Dach gegeben. Der Hausherrin der Villa am Birdcage Walk gelang es jedoch, ihren Ruf tadellos zu halten – nicht zuletzt, da man niemals Herrenbesuch beim Betreten oder Verlassen des Grundstücks beobachten konnte, weder bei Tag noch bei Nacht.
Die Herren blieben ungesehen, da sie sich nie dem Haus in der Nähe des Birdcage Walk näherten. Statt dessen gingen sie in ein gewisses privates Etablissement mit dem Name Nell Gwynne’s, zwei Strassen weiter, das im Keller eines recht exklusiven Abendlokals angesiedelt und über einen unterirdischen Gang mit Mrs. Corveys Keller verbunden war. Unnötig zu sagen, dass die Händler und Lieferanten dort nie hinkamen. Hätten sie es getan, so wären sie voller Verwunderung auf Mrs. Corvey und ihren kompletten Haushalt getroffen, inklusive Herbert, der sich unter diesem zweiten Dach auf mirakulöse Weise in Herbertina verwandelte. Die übrigen Frauen verwandelten sich ebenso – in Weiber mit Reitgerten, Rohrstöcken und anderen Werkzeugen ihres Handwerks.
Die Kunden von Nell Gwynne’s waren häufig Staatsmänner, die das Haus in bequemer Entfernung zu Whitehall schätzten. Nicht selten waren sie Mitglieder weiterer exklusiver Clubs. Einige waren Journalisten, andere bekannte Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft. Sie alle schätzten sich glücklich, die Mitgliedschaft bei Nell Gwynne’s erlangt zu haben, denn man wusste – im Kreise der Herrschaften, die solche Dinge zu wissen pflegen –, dass es nichts brachte, um einen Fürsprecher zu betteln. Mitglied wurde man ausschliesslich auf Einladung – und zwar nur nach Dafürhalten der Hausherrin.
Hin und wieder mochte jemand in der gedämpften und umsichtigen Atmosphäre des Athenaeums (oder des Carlton Clubs oder des Clubs der Reisenden) unter dem Einfluss ausreichender Mengen Portweins laut die Frage stellen, was man wohl tun müsse, um eine Einladung von Mrs. Corvey zu erhalten.
Die Antwort auf diese Frage jedoch erhielt er niemals.
Man musste Geheimnisträger sein.
***
Tatsächlich machten Geheimnisse den grössten Teil der Geschäfte aus, die im Nell Gwynne’s getätigt wurden – wobei die Fleischeslust knapp auf dem zweiten Platz der Liste landeten. Man entlockte die Geheimnisse im Saft stehenden Mitgliedern des Parlaments, kitzelte sie aus lüsternen Kabinettsmitgliedern heraus, brachte geschwätzige Industrielle zum Plaudern und schmeichelte sie kunstvoll aus den Mitgliedern der Royal Society heraus, ebenso wie aus jenen der Britischen Vereinigung zur Förderung der Wissenschaft.
Die so gesammelten Informationen wurden aber nicht, wie man hätte glauben können, an den Meistbietenden verkauft. Sie flossen direkt auf die andere Seite Whitehalls, an Scotland Yard vorbei in ein harmlos aussehendes Backsteingebäude in Craig’s Court, das den Redking Club beherbergte. Die Mitgliederschaft des Redking Club setzte sich zu gleichen Teilen aus anderen Parlamentsmitgliedern, Honoratioren und Angehörigen der Royal Society zusammen – sowie einer grossen Anzahl weiterer schlauer Männer. Freilich befanden sich unter dem Redking Club noch wesentlich mehr schlaue Männer, denn in seinen Kellern, die mehrere Stockwerke ins Erdreich vordrangen, war jene Vereinigung zu Hause, die man als
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