Sternenfaust - 121 - Weg ins Unbekannte
hilflos erlebt zu haben.
20 Frauen und Männer! Sie waren verloren in der anderen Dimension, in die die STERNENFAUST derzeit nicht hineinspringen konnte und in der man von hier aus nichts orten konnte. Waren einfach so verschwunden. 20 Familien oder Hinterbliebene, denen man dies erklären musste. 20 mal die Erkenntnis, dass es Geheimnisse im Weltraum gab, die noch weit davon entfernt waren, ergründet zu sein.
Taglieri stiefelte von der Brücke, Frost folgte ihm.
Joelle fuhr sich mit den Fingerspitzen über das Gesicht, als wolle sie sich spüren, vergewissern, dass sie noch da, noch anwesend war. Hätte sie das Unglück verhindern können? Nein, das hätte sie nicht. War sie Schuld am Tod der Soldaten, schuld am Tod von Jack?
Nein! Das war sie nicht!
War sie schuld am Tod ihres Vaters? Ihr Magen drehte sich um, als diese Erinnerung in ihr Hirn sprang wie eine hungrige Ratte. Ihr Geheimnis. Das nur Jack kannte. Jack, mit dem sie nun nie wieder darüber reden konnte. Jack, der sie beruhigt hatte, der so sanft und verständnisvoll gewesen war.
Sie hatte ihm davon erzählt, wie sie in ihre Wohnung gekommen war und ihren Vater gefunden hatte. Nein, dieser Gedanke war zu früh.
Begonnen hatte es am Abend davor. Sie hatte mit Vater unter einer Palme gesessen und an einem Drink genippt. Der kleine Mann sah traurig aus. Das war nichts Ungewöhnliches, schon immer hatte ihn eine ungewöhnliche Melancholie umgeben. Joelle fragte ihn: »Geht es dir nicht gut?«
»Oh doch, liebe Tochter. Alles ist gut …«
Und Joelle akzeptierte diese Antwort, wie sie die Antworten ihres Vaters immer akzeptierte.
Am nächsten Tag fand sie ihn.
Er lag auf dem Rücken, den Kopf seltsam verdreht, und atmete nicht mehr. Neben ihm lagen Tabletten. Ein schneller Blick erklärte alles. Er hatte sich das Leben genommen . Joelle erinnerte sich noch genau daran, was in diesem Moment in ihr vorgegangen war. Sie war unglaublich wütend geworden. War kurz davor gewesen, die Leiche ihres Vaters zu misshandeln. Heiße Wellen des Zorns waren über ihren Körper gerollt und sie hatte immer wieder geflüstert: »Warum lässt du mich alleine? Warum lässt du mich alleine?«
Der Abschiedsbrief erklärte alles.
Er sprach von der Kälte seiner Frau und davon, neben ihr nicht mehr existieren zu können, aber auch ohne sie nicht leben zu wollen. Und er verabschiedete sich von Joelle, von seiner »kleinen« Tochter.
Ein Träumer war er gewesen, ihr Vater! Ein Mann, der auf dem Eiffelturm herumkletterte wie ein Eichhörnchen und glücklich damit gewesen war, die Streben mit roter Farbe zu bemalen. Ein Mann, der wie ein Vogel über den Menschen geschwebt und seinen Frieden gefunden hatte. Einen Frieden, der ihm regelmäßig genommen wurde, wenn er versuchte, diesen mit seiner Frau zu teilen. Mit einer ehrgeizigen Person, die während ihrer Ehe kein gutes Haar an Ives Sobritzky gelassen hatte, ihn, wenn ihr danach war, der Lächerlichkeit preisgab, ohne mit der Wimper zu zucken.
Joelle vernichtete den Brief.
Sie wusste, dass man weder die Lebensversicherung, noch eine Rente auszahlen würde, käme das raus. Das war die pragmatische Reaktion, das andere war: Sie wollte nicht, dass man ihren Vater als jenen Schwächling in Erinnerung behielt, der er möglicherweise gewesen war. Nein, sie hatte ihren Vater und dessen romantische Ader immer geliebt, und würde alles dafür tun, dass dieser Mann so in Erinnerung blieb.
Mutter reagierte erstaunlich. Sie warf sich über den Toten, schrie und heulte. Die Ärzte diagnostizierten bei Ives Sobritzky Herzversagen und das Begräbnis war so, wie es eine Madeleine Sobritzky haben wollte. Pompös!
War Joelle schuld am Tod ihres Vaters? Hätte sie ihn retten können? Wäre es besser gewesen, den kleinen Mann mit erwachsenen Augen zu sehen und nicht mit denen eines jungen Mädchens? Hätte sie an jenem Abend nachhaken sollen? War der Zeitpunkt gekommen, einmal nicht die »kleine« Tochter zu sein, sondern eine junge Frau, der man sich anvertrauen konnte? Hätte es Vater geholfen, wenn er über seinen Kummer sprach?
»Nein«, hatte Jack gesagt. »Du bist nicht schuld daran. Du trägst nicht die Verantwortung für ihn. Er hatte die Wahl und hat sie getroffen. Jeder Mensch trägt für sein Leben seine eigene Verantwortung.«
Nur ein paar Sätze, aber sie hatten Joelle mehr gegeben als viele kluge Ratschläge sonst vermocht hätten.
Und ich bin unschuldig am Tod der zwanzig Soldaten! sagte sie sich. Das dachte sie in
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