In den Fesseln des Wikingers
1. Kapitel:
Die Druidin
Der Wind blies vom Meer herüber, peitschte die Wiesen und wirbelte gelbliche Staubwolken aus den abgeernteten Feldern empor. Die junge Frau hatte Mühe, den flatternden Mantel über der Brust zusammenzuhalten, mit vorgeneigtem Oberkörper stemmte sie sich gegen den Sturm und hob nur hie und da den Kopf, um mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung abzusuchen. Es war nicht ganz ungefährlich, so allein des Weges zu ziehen.
In der Ferne tauchten die dunklen Umrisse einiger Fußgänger auf, Männer in langen Gewändern, die die Mäntel zum Schutz vor dem Wind über die Köpfe gezogen hatten. Die junge Frau duckte sich hinter eine der niedrigen Hecken, die die Felder voneinander abgrenzten, und wartete ab, bis die Gruppe hinter einem der kleinen Gehöfte verschwunden war. Bauern waren das nicht, denn die trugen keine bodenlangen Kittel. Waren es Reisende oder Mönche aus dem nahegelegenen Kloster? Auf jeden Fall war es besser, nicht von ihnen gesehen zu werden.
Misstrauisch wartete sie eine Weile, bevor sie ihren Weg fortsetzte, doch die Gruppe schien zum Meer hinüberzuwandern, also bestand keine Gefahr. Es war jetzt nicht mehr weit bis zu Bertradas Gehöft, dennoch musste sie sich beeilen, denn es war bereits Nachmittag, und sie wollte auf dem Rückweg nicht in die Dunkelheit geraten.
Sie erkannte die Freundin schon von weitem. Bertrada stand unbeweglich, gegen die braune Mauer des Steinhäuschens gelehnt, der Wind hatte ihr Haar gelöst und ließ die hellen Strähnen flattern. Wenn der Stoff ihres Kleides sich gegen den Körper drückte, sah man deutlich, dass sie ein Kind trug.
„Ich danke dir, Rodena, dass du trotz allem gekommen bist“, sagte Bertrada unglücklich. „Wir haben nicht auf dich gehört. Jetzt müssen wir dafür büßen.“
„Es ist geschehen und nicht mehr zu ändern.“
Der Überfall der Wikinger war vor knapp einem Monat gewesen, und die Druidin Rodena hatte ihn vorausgesagt. Doch die Mönche im Kloster hatten strenge Strafen angedroht, falls jemand den Reden der verfluchten Heidin Glauben schenkte, und so hatten nur wenige Bauern heimlich ihre Vorräte versteckt und für Frauen und Kinder einen Unterschlupf in den Wäldern vorbereitet. Als die Drachenboote am Horizont auftauchten, sich pfeilschnell der Küste näherten und über das Kloster und die umliegenden Gehöfte herfielen, fanden sie reiche Beute in den Häusern.
Bertradas Haus war ausgebrannt, der Innenraum schwarz verkohlt, das Dach notdürftig mit Zweigen und halb verbrannten Balken gedeckt. Weder Tür noch Fensterladen schützten gegen das Wetter. Bertradas Mann Endo lag auf dem nackten Erdboden, sein Kittel war zerrissen, der Verband, der die Wunde an seinem Bein bedeckte, war aus Bertradas Hemd gefertigt worden. Der junge Mann hatte sich den Eindringlingen todesmutig entgegengestellt, um seine schwangere Frau zu verteidigen – ein Axthieb in den Oberschenkel hatte ihn jedoch rasch zu Fall gebracht.
„Er redet irre im Fieber“, flüsterte Bertrada. „Die Wunde will sich nicht schließen.“
Rodena kniete bereits neben dem Verwundeten und löste die Stoffstreifen, die um das verletzte Bein gebunden waren. Endo stöhnte leise bei der Berührung und öffnete die Augen einen winzigen Spalt, um zu sehen, wer gekommen war. Als er die Druidin erkannte, hob er mühsam den Arm, als wolle er sie abwehren, doch die junge Frau kümmerte sich nicht darum.
„Weshalb habt ihr mich nicht früher holen lassen?“
„Er hat es mir verboten ...“, flüsterte Bertrada.
Ärgerlich presste Rodena die Lippen aufeinander, doch das Mitleid war stärker als die Kränkung, und sie verzichtete darauf, ihrer Freundin Vorwürfe zu machen. Die Mönche des Klosters hetzten unentwegt gegen sie und ihre Mutter, nannten sie Hexen oder Zauberinnen, riefen die Bauern dazu auf, das keltische Heiligtum im Wald zu zerschlagen und die beiden Frauen zu vertreiben. Besonders die Männer waren rasch bereit gewesen, den Geboten der Mönche zu folgen, doch die Frauen dachten anders. Viele von ihnen achteten insgeheim noch den alten Glauben und suchten Rat bei den keltischen Druidinnen, die bei Geburten und Krankheiten mit heilkräftigen Kräutern und der Magie der Götter helfen konnten.
Die Wunde sah nicht gut aus. Wahrscheinlich hatte Endo sich eine Weile herumgeschleppt, um das Dach notdürftig zu decken und an der Küste auf Fischfang zu gehen, denn die Wikinger hatten die Wintervorräte geräubert. Rodena knüpfte den
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