Sueßer Tod
gibt wenige genug – fällt mir eines auf: obwohl Frauen um die Fünfzig die Autorinnen sind, schreiben sie nur, um zu ihrer Jugend zurückzukehren. Ihre Erfahrungen, ihre Weisheit interessieren sie nicht. Die Vergangenheit ist es, die durchforscht wird, meistens nach der großen Liebe und immer nach Ereignissen aus der Kindheit. Das wichtigste Ereignis beginnt immer: ›Und dann traf ich diesen Mann.‹ (Oder: ›Gott sprach zu mir…‹) Virginia Woolf schrieb einen außergewöhnlichen Roman über eine Frau in ihren Fünfzigern, aber Woolf war schließlich ein Genie. Ich bin eine intelligente Frau von fünfundfünfzig Jahren, und meine Geschichte liegt in der Gegenwart. Ich stelle fest, daß ich schon älter als Clarissa Dalloway bin, die nur zweiundfünfzig wurde.
Ich werde nicht in die Vergangenheit zurückgehen. Natürlich gibt es Erinnerungen. Die Vergangenheit taucht plötzlich wieder auf, wird für einen Moment durch ein Ereignis, einen Geruch (wie oft passiert mir das!) wieder lebendig oder durch ein Geräusch wie Wellen oder eine Trillerpfeife oder einen Ort, der uns plötzlich wieder ganz in die Vergangenheit eintauchen läßt. Aber solche Momente sollen mir nicht als Entschuldigung dienen, die Geschichte meiner Jugend zu erzählen. Für mich gibt sie keine Geschichte her. Was mich betrifft, sind Jugendgeschichten müde Geschichten. Aber die Geschichte des Alters, der Reife, der Zeitspanne, bevor völlige Hinfälligkeit und Senilität einsetzen, wurde noch nie erzählt. Außer vielleicht von Shakespeare, der alles erzählt hat, vorausgesetzt, es handelte von Männern.
Woolf schrieb: Jene Momente – im Kinderzimmer, auf dem Weg zum Strand –
können immer noch wirklicher sein als der gegenwärtige Moment. Dies habe ich gerade überprüft. Und sie schildert, wie die Empfindungen ihrer Kindheit, die in gewisser Weise ein Eigenleben in ihr führen, mit der ganzen Intensität wieder auftauchen können, die sie einst besaßen. Ich möchte nicht bestreiten, daß dies für 19
Virginia Woolf oder andere Menschen zutreffen mag. Aber nicht für mich. Ich bin nicht nur ohne jede Nostalgie, sondern wie mir scheint, auch ohne jede Erinnerung
– abgesehen natürlich von jenen flüchtigen Momenten, wo Erinnerungen mich plötzlich übermannen. Ansonsten ist das, was ich erinnere, keine Erinnerung, sondern eine konservierte Geschichte – wie z. B. die Geschichte von der Geburt meiner Kinder. Ich habe sie ein für allemal parat und jederzeit als Anekdote abrufbar. Was ich erzähle, ist natürlich nicht die Vergangenheit, sondern die Geschichte, zu der ich die Vergangenheit gemacht habe – eine Geschichte, die die Vergangenheit ein für allemal wegschließt und es mir erspart, sie neu interpretieren zu müssen. Aber ich kann doch unmöglich die einzige Frau um die Fünfzig sein, die nur in der Gegenwart lebt.
Heidegger hat gesagt, daß wir uns zwischen dem ›nicht mehr‹ und dem ›noch nicht‹ bewegen. Für mich sind die vor mir liegenden Jahre dem ›noch nicht‹
gewidmet, dem, was sich noch nicht verwirklicht hat. Ich spüre keine Nostalgie, habe aber auch keine weitreichenden persönlichen Hoffnungen. Ich beobachte, wie alle sich Illusionen über das Alter hingeben. Jeder denkt, in seinem persönlichen Fall wäre das Alter erträglich. Ich habe nie einen alten Menschen getroffen, dessen Gesellschaft ich länger als eine Minute ertragen hätte – wenn ich ehrlich sein soll.
Mag sein, daß ihre Geschichten interessant sind, wenn man sie das erste Mal hört, besonders wenn die alten Menschen Berühmtheiten kannten oder selbst Großes leisteten. Aber sie wiederholen sich, wie ein Tonband, das auf den richtigen Knopfdruck hin die einmal aufgenommene Geschichte immer wieder abspult.
Nein, wichtig ist das Leben für mich nur zwischen fünfundzwanzig und siebzig, und ich befinde mich in den letzten Dekaden dieser Zeitspanne. Zumindest in diesem einen Punkt hatte das Alte Testament recht: die richtige Spanne menschlichen Lebens sind drei mal zwanzig Jahre und zehn. Ich werde die beiseite gelegten Pillen nehmen oder ins Meer gehen, oder eine dieser neuen Krankheiten wird mich treffen, die die Immunologen aus dem Konzept bringen, und ich werde dafür sorgen, daß sie nicht rechtzeitig lebensverlängernde Maßnahmen ergreifen können. Der Ruf nach dem Tod kommt, so glaube ich, erst vor der letzten Dekade, ehe das Leben aufhört sinnvoll zu sein, in Betracht.
Stevie Smith empfand es wohl so ähnlich wie ich. An
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