Ruf Der Tiefe
Prolog
Der kleinen Shelley war es langweilig. Sehr langweilig sogar. Sie hatte eine Sandburg gebaut, wieder zertrampelt, mit Wasser übergossen und zu einem See ausgebaggert. Jetzt waren ihre Finger rosa geschrubbt vom feuchten Sand, ihr war heiß von der Sonne und ihre Mutter las immer noch.
»Wie lang musst du dich noch ausruhen?«, fragte Shelley enttäuscht.
»Noch ein bisschen, Darling, bau doch eine neue Sandburg. Oder schau mal, da drüben sind zwei Mädchen, mit denen kannst du bestimmt spielen.«
Die Mädchen hatten ihr schon einmal die Zunge rausgestreckt und zweimal einen Ball an den Kopf geworfen. »Nee, lieber nicht.« Shelley überlegte. »Darf ich mit der Luftmatratze ins Wasser?«
»Na gut. Aber du bleibst da, wo es flach ist, okay?«
»Okay«, sagte Shelley erfreut, schnappte sich die Luftmatratze und zerrte sie quer über den Strand zum Meer. Das war nicht ganz einfach, weil sie im Zickzack um Leute und Handtücher und Liegestühle und Sonnenmilchflaschen herumgehen musste.
Shelley schob ihre durchsichtige Luftmatratze in die kleinen Wellen, die ihr bis kaum zum Knie reichten und ihre Schienbeine kitzelten. Übermütig warf sie sich auf ihr Boot und fing mit beiden Armen an zu paddeln. Es ging besser, als sie gedacht hatte, und das Wasser war herrlich blau und klar. Sie konnte sogar ein paar Fische sehen, die unter der Oberfläche herumhuschten. Shelley tauchte eine Hand ins Wasser und lachte, als die Fische erschrocken wegflitzten.
Als sie aufblickte, sah sie, dass sie schon ein paar Meter vom Ufer entfernt war. Aber das machte nichts, hier war es immer noch flach, an manchen Stellen standen Leute herum und das Wasser ging ihnen nur bis zum Bauch. Shelley paddelte weiter. Wie schön warm es in der Sonne war, und wenn ihr zu heiß wurde, konnte sie sich nassspritzen oder die Arme ins Wasser hängen. Sie legte den Kopf auf die Luftmatratze und döste ein bisschen.
Es gab Stellen im Meer, die waren nicht hellblau, sondern dunkelgrünblau. Ihre Mutter hatte ihr mal erklärt, dass das manchmal die Schatten von Wolken waren und manchmal Korallen, die am Meeresboden wuchsen und auf die man nicht drauftreten durfte, weil sie spitz wie Nadeln sein konnten. Aber was war das da für ein Schatten dort vorne? Eben war er noch woanders gewesen, da war Shelley ganz sicher. Ja, er bewegte sich langsam. Und er war ziemlich groß. Bestimmt dreimal so groß wie ihre Luftmatratze.
Sie hob den Kopf, stützte die Arme auf dem Gummi ab und blickte sich um. Erschrocken bemerkte sie, dass sie jetzt doch ziemlich weit draußen war, hier stand auch niemand mehr im Wasser herum, nur zwei oder drei Köpfe von schwimmenden Leuten waren zu sehen.
Und dann sah Shelley noch etwas. Es war nicht nur ein großer Schatten, dort im durchsichtigen Wasser.
Es waren viele.
Shelley begann zu schreien.
Eins mit der Dunkelheit
Wenn die anderen Taucher außerhalb der Station waren, schalteten sie sofort die Lampen an und verließen sich auf ihren starken Schein, der die kahle Landschaft des Meeresbodens erhellte. Leon hatte immer das Gefühl, dass sie verzweifelt die Finsternis zurückzudrängen versuchten. Doch die Dunkelheit umgab sie, sie konnten ihr sowieso nicht entgehen, und die dünnen Lichtfinger der Kopf- und Handlampen fand Leon eher jämmerlich.
Dadurch entging den anderen mehr, als sie sahen.
Leon mochte die Dunkelheit der Tiefsee. Wenn er allein tauchte oder mit Lucy, dann schaltete er oft die Lampe ab. Die völlige Schwärze machte ihm nichts aus, irritierte ihn nicht – die Dunkelheit umhüllte ihn wie ein Mantel und er fühlte sich geborgen in ihr. Nach einer Weile hatten sich seine Augen an die Umgebung gewöhnt, und er sah das, was die anderen verpassten. Das schwache Leuchten der Tiefseegarnelen. Den glimmenden Punkt, der einen Anglerfisch verriet – über seinem unförmigen Körper hing eine verlängerte Flosse, die einer Angel glich. Mit der wie eine Laterne leuchtenden Spitze lockte er Beute vor sein zähnegespicktes Maul. Das schnelle Blink-Blink eines Blitzlichtfisches, der die leuchtenden Flecken unter seinen Augen buchstäblich an- und ausknipsen konnte, indem er ein Lid darüberschob.
Seine Nachbarn. Sie störten sich nicht an ihm, wenn er sich unter ihnen bewegte. Er war ein Teil dieser Welt.
Tief sog Leon mit Sauerstoff angereicherte Flüssigkeit, von seinem Anzug bereits auf Körpertemperatur angewärmt, in seine Lungen. Schon längst fühlte es sich nicht mehr fremd an, etwas Ähnliches wie
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