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Tagebücher: 1909-1923

Tagebücher: 1909-1923

Titel: Tagebücher: 1909-1923 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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so vergeßlich wie früher, ich bin ein lebendig gewordenes Gedächtnis, daher auch die Schlaflosigkeit.
    In Hebels Brief die Stelle über Polytheismus.

      16 X 21 Sonntag Das Unglück eines fortwährenden Anfangs, das Fehlen der Täuschung darüber, daß alles nur ein Anfang und nicht einmal ein Anfang ist, die Narrheit der andern, die das nicht wissen und z. B. Fußball spielen, um endlich einmal “vorwärts zu kommen”, die eigene Narrheit in sich selbst vergraben wie in einem Sarg, die Narrheit der andern, die hier einen wirklichen Sarg zu sehen glauben, also einen Sarg, den man transportieren, aufmachen, zerstören, auswechseln kann.

      Zwischen den jungen Frauen oben im Park. Kein Neid. Genug Phantasie, um ihr Glück zu teilen, genug Urteilsfähigkeit, um zu wissen, daß ich zu schwach bin für dieses Glück, genug Narrheit, um zu glauben, daß ich meine und ihre Verhältnisse durchschaue. Nicht genug Narrheit, eine winzige Lücke ist da, der Wind pfeift durch sie und verhindert die volle Resonanz.
    Wenn ich den großen Wunsch habe ein Leichtathlet zu sein, so ist das wahrscheinlich so, wie wenn ich wünschen würde in den Himmel zu kommen und dort so verzweifelt sein zu dürfen wie hier.
      Wenn mein Fundus auch noch so elend sei, “unter gleichen Umständen” (besonders mit Berücksichtigung der Willensschwäche) sogar der elendeste auf der Erde, so muß ich doch, selbst in meinem Sinne, das Beste mit ihm zu erreichen suchen und es ist leere Sophistik zu sagen, man könne damit nur eines erreichen und dieses eine sei daher auch das Beste und es sei die Verzweiflung
      17 XI (Oktober 1921) Dahinter, daß ich nichts Nützliches gelernt habe und mich – was zusammenhängt – auch körperlich verfallen ließ, kann eine Absicht liegen. Ich wollte unabgelenkt bleiben, unabgelenkt durch die Lebensfreude eines nützlichen und gesunden Mannes. Als ob Krankheit und Verzweiflung nicht zumindest ebenso ablenken würden!

      Ich könnte diesen Gedanken auf verschiedene Weise abrunden und damit zu meinen Gunsten zuendeführen, aber ich wage es nicht und glaube – wenigstens heute und so in der Mehrzahl der Tage – an keine für mich günstige Lösung.
      Ich beneide nicht das einzelne Ehepaar, ich beneide nur alle Ehepaare, auch wenn ich nur ein Ehepaar beneide, beneide ich eigentlich das ganze Eheglück in seiner unendlichen Vielgestalt, im Glück einer einzigen Ehe würde ich selbst im günstigsten Fall wahrscheinlich verzweifeln.
      Ich glaube nicht, daß es Leute gibt, deren innere Lage ähnlich der meinen ist, immerhin kann ich mir solche Menschen vorstellen, aber daß um ihren Kopf so wie um meinen immerfort der heimliche Rabe fliegt, das kann ich mir nicht einmal vorstellen.
    Die systematische Zerstörung meiner selbst im Laufe der Jahre ist erstaunlich, es war wie ein langsam sich entwickelnder Dammbruch, eine Aktion voll Absicht. Der Geist, der das vollbracht hat, muß jetzt Triumphe feiern; warum läßt er mich daran nicht teilnehmen? Aber vielleic ht ist er mit seiner Arbeit noch nicht zuende und kann deshalb an nichts anderes denken.
    18 (Oktober 1921) Ewige Kinderzeit. Wieder ein Ruf des Lebens.
      Es ist sehr gut denkbar, daß die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.

      19 (Oktober 1921) Das Wesen des Wüstenwegs. Ein Mensch, der als Volksführer seines Organismus diesen Weg macht, mit einem Rest (mehr ist nicht denkbar) des Bewußtseins dessen, was geschieht. Die Witterung für Kanaan hat er sein Leben lang; daß er das Land erst vor seinem Tode sehen sollte ist unglaubwürdig. Diese letzte Aussicht kann nur den Sinn haben, darzustellen, ein wie unvollkommener Augenblick das menschliche Leben ist, unvollkommen, weil diese Art des Lebens endlos dauern könnte und doch wieder nichts anderes sich ergeben würde als ein Augenblick. Nicht weil sein Leben zu kurz war kommt Moses nicht nach Kanaan, sondern weil es ein menschliches Leben war. Dieses Ende der 5 Bücher Moses hat eine Ähnlichkeit mit der Schlußszene der Education sentimentale.
      Derjenige der mit dem Leben nicht lebendig fertig wird, braucht die eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren

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