Tanz des Verlangens
aber trotzdem kann er sehen, wie sie auf direktem Wege durch die geschlossene Tür hereingleitet. Inzwischen weiß er, wonach er Ausschau halten muss, wie er nach ihr suchen muss. Es ist wie eine verborgene Botschaft in einem visuellen Puzzle.
Sie verhält sich, als ob sie nie fort gewesen wäre, legt sich wie geistesabwesend auf die Matratze und streckt die schlanken Arme über den Kopf. Ihr langes Haar ergießt sich über das Laken – glänzend und schwarz hebt es sich von dem Weiß des Stoffs ab. Ihre blassen Brüste sprengen fast ihr Kleid.
Ich vergebe ihr.
Wenn er nie erweckt wurde, wieso findet er diesen Anblick derartig fesselnd? Wieso beginnen seine Fänge zu schmerzen?
Er führt die innere Debatte fort, ob es sich nun um den Splitter einer Erinnerung, eine Halluzination oder einen Geist handelt. Soweit es die Möglichkeit eines Erinnerungssplitters betrifft: Sie passt zu perfekt zu diesem Ort, dieser Situation. Und wenn sie eine Ausgeburt seiner Fantasie ist, warum sollte er sich eine Frau vorstellen, die das genaue Gegenteil dessen ist, was ihn normalerweise anzieht?
Er dachte immer, dass er große nordische Frauen bevorzuge, mit blondem Haar und von der Sonne und dem Leben im Freien geröteter Haut. Aber diese Frau ist zierlich und bleich, kaum größer als einen Meter fünfzig. Ihr Haar ist so schwarz wie die Nacht.
Während seines rauen menschlichen Lebens hätte er ihr höchstens einen mitleidigen Blick geschenkt, in der Annahme, dieses zarte Mädchen würde in ihrem vom Krieg gebeutelten Land wohl kaum den nächsten Winter überleben. Und sie hatte ja auch tatsächlich nicht lange überlebt. Sie scheint nicht älter als Anfang zwanzig zu sein. Wenn Geister tatsächlich aus Gewalt entstehen, wie konnte es sein, dass sie so ein frühes Ende gefunden hatte?
Das wäre nicht passiert, wenn sie einen starken Beschützer gehabt hätte. Ich bin stark. Er unterdrückt ein leises Stöhnen. Ich hätte sie beschützt, wenn sie die Meine gewesen wäre.
Vielleicht hätte er doch nicht gleich ihr frühes Ende im nächsten Winter vorausgesehen und sich nicht abgewandt. Vielleicht hätte er sich ihr genähert. Auf seine ruppige Art hätte er möglicherweise versucht, sich ihr als Beschützer anzubieten. Er war ein erfahrener Offizier. Er war von edler Geburt, und das galt doch etwas – zumindest vor dem Großen Krieg. Vielleicht hätte sie ihn akzeptiert.
Mein Gott, so eine Frau in meiner Obhut zu haben … sie jede Nacht zu nehmen.
Er kann sich vorstellen, wie sich das angefühlt hätte. In letzter Zeit werden seine Albträume immer wieder von seltsamen neuen Träumen unterbrochen, in denen er ihre Arme über ihrem Kopf festhält und sich auf ihren sinnlichen, zarten Körper legt.
Es gibt eine Grenze … es gibt eine Grenze …
Kann diese Frau am Ende doch real sein? Das würde nicht nur bedeuten, dass er sich den Geist nicht eingebildet hätte, sondern auch, dass er seit ganzen drei Tagen nicht eine einzige Halluzination mehr gehabt hatte. So etwas ist ihm seit hundert Jahren nicht mehr passiert.
Was wiederum bedeuten würde, dass er vielleicht doch noch … geheilt wird.
Es ist, als ob ein Strahlenkranz zwischen seinen Augen explodiert. Endlich erinnert er sich daran, was er bereut hatte, wonach er sich so furchtbar gesehnt hatte.
In diesem Moment betreten Nikolai und Sebastian mit grimmiger Miene das Zimmer. Warum hat Nikolai eine Spritze in der Hand?
„Wofür ist diese beschissene Spritze?“, fragt er. Seine leise Stimme täuscht nicht über den warnenden Unterton hinweg. „Ich habe nichts getan.“
„Nein, aber wir fürchten, das wirst du“, sagt Nikolai. „Wir müssen dich aus diesem Zimmer herausholen, und das hier sorgt dafür, dass dir dabei nichts geschieht.“
Als Nikolai näher kommt, brüllt Conrad: „Lass mich mit diesem Scheißding in Ruhe, Nikolai!“ Er will nicht wieder stumpfsinnig daliegen, das darf nicht geschehen. „Nein!“
Ich will nicht, dass sie mich so sieht.
„Verdammt noch mal, ich hab Nein gesagt!“
9
Néomi war neuerlich fassungslos, wie vehement sich Conrad gegen die beiden Männer zur Wehr setzte. Erst rammte er seine Stirn gegen Sebastians, und dann hätte er Nikolai mit seinen Fängen fast die Hand abgebissen.
Doch schlussendlich nutzte ihm seine Gegenwehr überhaupt nichts. Sie verabreichten ihm erneut eine Spritze. Kurz bevor die Wirkung einsetzte, starrte Conrad mit gerunzelten Brauen und zusammengebissenen Zähnen in ihre Richtung, und das
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