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Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tathana Cruz Smith
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»Was wollen Sie?«
    »Ich hab Sie im Hotel mit diesen Leuten gesehen. Die sind umgeben von Leibwächtern und haben ein ganzes Stockwerk für sich.« Der Metzger wurde vertraulich. »Wer sind die?«
    »Geschäftsleute.«
    »Internationale Geschäfte, sonst würden die ja keinen Dolmetscher brauchen, stimmt’s? Ohne Sie kommt alles zum Stillstand. Das Räderwerk bleibt stehen, nicht wahr? Das große Rad wird vom kleinen Rad gestoppt, ist es nicht so?«
    Joseph wurde unbehaglich zumute. Schließlich war das hier Kaliningrad. Das Schwein leuchtete, frohen Mutes bereit für den Gang zur Schlachtbank. Joseph erwog, vor diesem Verrückten wegzulaufen. Selbst wenn nicht auf ihn geschossen wurde, würde er sein Fahrrad zurücklassen müssen. Der Sand war zu tief und zu weich für die Reifen. Die ganze Sache war erniedrigend.
    »Ich dolmetsche nur«, sagte Joseph. »Für die Inhalte bin ich nicht verantwortlich.«
    »Und machen sich Notizen bei geheimen Treffen.«
    »Völlig legal. Die Notizen dienen mir bloß als Gedächtnisstütze.«
    »Geheime Treffen, sonst wären Sie nicht in Kaliningrad. Sie würden sich in Paris amüsieren.«
    »Die Sache ist heikel«, gab Joseph zu.
    »Darauf wette ich. Sie haben eine echte Gabe. Die Leute reden wie ein Wasserfall, und Sie übersetzen es Wort für Wort. Wie können Sie sich das alles merken?«
    »Dazu sind die Notizen da.«
    »Die möchte ich gerne sehen.«
    »Sie würden sie nicht verstehen.«
    »Ich kann lesen.«
    Rasch fügte Joseph an: »Das bezweifle ich auch nicht, nur ist der Inhalt höchst technisch. Und die Notizen sind vertraulich. Wir würden uns strafbar machen.«
    »Zeigen Sie her.«
    »Das kann ich wirklich nicht.« Joseph blickte sich um und sah nichts als Möwen, die am Strand patrouillierten, falls etwas zu fressen auftauchte. Niemand hatte den Möwen mitgeteilt, dass die Saison zu Ende war.
    »Sie kapieren’s nicht. Von den Einzelheiten muss ich nichts wissen. Ich bin ein Pirat, genau wie diese Afrikaner, die Tanker entführen. Die haben nicht den blassesten Schimmer von Öl. Sind einfach ein paar schwarze Drecksäcke mit Maschinenpistolen, aber wenn sie einen Tanker kapern, haben sie alle Karten in der Hand. Reedereien zahlen Millionen, um ihre Schiffe wiederzubekommen. Die Entführer ziehen nicht in den Krieg, sie werfen dem System nur Knüppel zwischen die Beine. Tanker sind ihre Gelegenheitsziele, und genau das sind Sie, mein Gelegenheitsziel. Ich verlange bloß zehntausend Dollar für ein Notizbuch. Habgierig bin ich nicht.«
    »Wenn Sie nur der Laufbursche sind, ändert das alles.« Sofort merkte Joseph, dass er das Falsche gesagt hatte und auf die falsche Weise. Als hätte er eine Kobra gepiekst. »Lassen Sie mich … Ihnen zeigen …« Joseph griff hinter sich und kämpfte mit den Taschen seines Trikots, fummelte Wasserflasche und Energieriegel heraus, bis er ein Notizbuch und Bleistifte fand.
    »Ist es das?«, fragte der Metzger.
    »Ja, nur nicht, was Sie erwarten.«
    Der Metzger öffnete das Notizbuch auf der ersten Seite, schlug die zweite auf, die dritte und vierte. Schließlich blätterte er es bis zum Schluss durch.
    »Was, zum Teufel, ist das? Zeichnungen von Katzen? Kritzeleien?«
    »So mache ich mir Notizen.« Joseph konnte seinen Stolz nicht ganz verbergen.
    »Woher soll ich wissen, ob das die Notizen sind?«
    »Ich lese Sie Ihnen vor.«
    »Sie könnten mir ja den letzten Scheiß erzählen. Und was soll ich denen zeigen?«
    »Wer ist denen ?«
    »Was glauben Sie wohl? Kommt man diesen Leuten quer, ist man im Arsch.«
    Seine Arbeitgeber? Wenn er es doch nur erklären könnte.
    »Meine Notizen …«
    »Sind ein Witz? Ich zeige Ihnen, was ein Witz ist.« Der Metzger zerrte Joseph zum Kastenwagen und öffnete die Laderaumtür. Aus seinen vielen Sprachen kam dem Dolmetscher nur ein Wort in den Sinn: »Jesus.« Im Kastenwagen hingen zwei enthäutete Lämmer, kopfüber, kalt und blau.
    Mehr Worte fand Joseph nicht. Ihm hatte es den Atem verschlagen.
    »Sollen die Vögel das doch lesen.« Der Metzger schleuderte das Notizbuch in den Wind, stieß Joseph in den Laderaum und kletterte hinter ihm hinein.
    Von überall kamen Möwen. Ganze Schwärme von Dieben stießen herab und beraubten sich gegenseitig. Jeder kleinste Fetzen aus Josephs Taschen wurde aufgepickt und untersucht. Um einen halb gegessenen Energieriegel entstand ein Tauziehen. Ein Schuss schreckte die Vögel kurz auf, und der Gewinner flog davon, verfolgt von anderen Möwen und wütendem

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