Terra Anchronos (German Edition)
gesehen hast?“
Martha bedachte Arne mit einem strafenden Blick.
„Ja, es waren Subtektonen.“
Arne hob zaghaft einen Finger, um Martha zu zeigen, dass er eine Frage hatte.
„Du sagst, dass du ein Subtektone bist. Du siehst aus wie ein Mensch und warst wohl auch einmal einer.
Die Polizeiakte ist ja Beweis genug. Was aber unterscheidet den Menschen vom Subtektonen?“
Martha dachte angestrengt über eine einfache Erklärung nach, als das laute Rufen des Kapitäns über den Hof klang.
„Abendessen, Kinder.“
Erschrocken sah Arne auf seine Uhr. Er machte jedoch keine Anstalten, dem Ruf des Vaters Folge zu leisten. Das hätte er unter normalen Umständen nie gewagt. Gebannt wartete er auf Marthas Erklärung.
„Subtektonen sind Menschen, deren Zeit abgelaufen ist.“
Martha nickte entschieden. „Das ist die richtige Erklärung. Schiffbrüchige, die dem Tod so nahe sind, dass es kein Zurück mehr gibt, können zu Subtektonen werden, indem sie in die Terra anchronos geholt werden.“
Die Terra anchronos
Während des Abendessens rutschte Arne unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Statt zu essen, biss er nachdenklich auf seine Unterlippe und gab seinen Eltern nur einsilbige Antworten. Die Neugier gab ihm das Gefühl, fast platzen zu müssen. Als der Vater schließlich fragte, was Arne denn so auf der Seele liege, dass er so unruhig wirke, konnte der Junge seine Frage nicht mehr zurückhalten.
„Hast du schon einmal erlebt, dass auf See plötzlich Land auftaucht, wo sonst nichts ist?“
Martha schlug beide Hände vor das Gesicht, stieß einen spitzen Schrei aus und warf Arne einen entsetzten Blick zu. Der versuchte sie mit einer beschwichtigenden Geste zu beruhigen. Martha senkte den Kopf tief über ihren Tel er und widmete sich angestrengt ihrer Mahlzeit.
Der erfahrene Kapitän legte erstaunt Messer und Gabel aus der Hand und schaute seinen Sohn prüfend an.
Dann grinste er.
„Du hast dir wohl wieder einmal Moby Dick, den weißen Wal, vorgenommen?“ Der Kapitän erhob sich und schritt, den Gang eines Seemanns mit Holzbein imitierend, humpelnd durch den Raum. Plötzlich hob er einen Arm, deutete mit einem Finger zur Decke und rief theatralisch: „Ihr werdet Land riechen, wo keines ist.“
Arnes Mutter musste lachen. „Setz dich, Kapitän Ahab. Erst wird gegessen, dann kannst du auf Walfang gehen.“
„Jetzt mal ehrlich.“ Arne sah seinen Vater aufmerksam an.
„Es gibt tatsächlich Stellen im Meer, wo sich allmählich Land erhebt. Eigentlich sind es eher Sandbänke. Als richtiges Land will ich das nicht bezeichnen. Strömung und Gezeiten bringen immer wieder große Mengen Sand mit. Irgendwo bleibt das liegen und kann durchaus auch aus dem Wasser wachsen.
Das ist ja der Grund, warum wir Seeleute ständig unsere Seekarten korrigieren müssen. Wassertiefen ändern sich. Land entsteht und verschwindet auch wieder.“
Arne schaute triumphierend zu Martha hinüber.
Die hob jedoch nicht den Kopf, um das aufgeregte Blitzen in Arnes Augen sehen zu können.
„Das passiert jedoch nur in Küstennähe. Das Deutsche Hydrographische Institut ...“
Bevor der Kapitän zu einem längeren Vortrag über die Wichtigkeit des Korrigierens von Seekarten ansetzen konnte, wurde er von Arne unterbrochen.
„Kommt es auch vor, dass ein Geruch von Fäulnis und Moder in der Luft liegt?“
Der Kapitän kratzte an seinem Bart und schien nachzudenken.
„Auf See habe ich das noch nicht erlebt. Da riecht es frisch. Nach Salz und Wasser. Aber an der Küste? Ja, da stinkt es gelegentlich schon einmal. Das kann aber von Land heranziehen. Wer weiß das schon?“
„Können Sandbänke auch stinken?“ Arne war so aufgeregt, dass er fast das Atmen vergaß.
„Vielleicht“, lautete die Antwort. „Wenn der Kadaver eines gestrandeten Wals darauf liegt. Dein Wissensdurst ehrt dich, Arne. Aber wie kommst du auf diese Fragen?“
„Nur so.“
Um weiteren bohrenden Fragen vorzubeugen, sprach Martha zum ersten Mal im Beisein von Arnes Eltern. Sie blickte auf und sagte leise, fast kläglich: „Darf ich heute Nacht auf Stroh schlafen?“
Der Kapitän und seine Frau sahen sich kurz an.
Dann sprang Arnes Mutter mit einem strahlenden Gesicht auf. „Natürlich, mein Kind!“ Es war, als ob die Frau Martha nun erst richtig willkommen heißen konnte, so sehr herzte und drückte sie das Kind. Dann lief sie schnell aus dem Haus und besorgte sauberes Stroh, mit dem sie einen Bettbezug füllte und auf die Matratze legte. Sie redete
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