Tochter der Nacht
Frage gestellt und noch viel weniger je daran gedacht, die Opfer könnten sie oder jemand, den sie kannte, betreffen. Dieses ferne, halb geahnte Grauen streckte nun den Arm nach der unschuldigen Papagena aus, die alle hier am Hof mit ihren Künsten unterhalten hatte. Pamina erfaßte ein neues, unbekanntes Gefühl, und sie wußte nicht, daß es Zorn war. Sie wußte nur, daß ihre Zähne klapperten, und daß sie einen schalen Geschmack im Mund hatte. Rawa winselte, knurrte und jaulte noch immer, und zum ersten Mal ärgerte sich Pamina über ihre Amme. Doch sie ermahnte sich: Rawa ist ein Hunde-Halbling, und man kann von ihr kein Urteilsvermögen erwarten.
»Rawa, ich habe dir gesagt, du sollst still sein. Disa wird jeden Augenblick zurückkommen, und wenn sie hört, wie du dich aufführst, wird sie dich doch noch in die Ställe schicken.
Hör zu, Papagena. Ich werde nicht zulassen, daß man dich als Opfer wegführt, hab keine Angst.«
∗ ∗ ∗
Pamina hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie tun würde; sie wußte nur, sie würde nicht zulassen, daß so etwas geschah.
Rawas leises Winseln machte sie auf Schritte im Flur aufmerksam. Disa kam zurück: Schnell schob Pamina den Vogel-Halbling hinter einen Vorhang und drehte sich nach ihrer Halbschwester um.
Aber nicht Disa betrat das Gemach, sondern ein halbes Dutzend Palastwächterinnen, angeführt von der jüngsten ihrer drei Halbschwestern. Kamala war nicht so groß wie Disa. Sie hatte einen rundlicheren Körper, und obwohl Pamina sich nie die Mühe gab, darüber nachzudenken, kam ihr Kamalas Aussehen eine Spur menschlicher vor. Die Wächterinnen trugen weiche dunkle Lederröcke und Brustpanzer; Kamala jedoch hatte sich bereits für die Prozession umgekleidet. Sie warf einen prüfenden Blick auf Rawa, die aufgeregt winselte und knurrte, und sagte:
»Sie muß hier sein. Seht euch den Hund an!«
Im nächsten Augenblick zog man Papagena hinter den Vorhängen hervor, und sie stand bebend und zitternd vor den Wächterinnen.
»Laßt sie«, rief Pamina, »sie wird vor Angst sterben. Mutter hat mir gesagt, das Vogel-Volk ist nicht so stark wie wir, und wenn man Papagena erschreckt, kann ihr Herz stehen-bleiben!«
Die Anführerin der Wache, eine freundliche Frau, die vermutlich etwas vom Hunde-Volk in sich hatte, erklärte:
»Schon gut, kleine Herrin. Ihr dürft Euch keine Sorgen um ihresgleichen machen. Sie hat nicht das Recht, hierherzu-kommen und Euch zu beunruhigen. Wir werden sie dorthin zurückbringen, wohin sie gehört. Macht Euch keine Sorgen.
Rawa, was denkst du dir dabei, dieses unwürdige Nichts in das Gemach der Prinzessin zu lassen?«
»Sie bildet sich zuviel ein«, sagte Disa, die gerade mit einem Prozessionsgewand über dem Arm hereinkam. Pamina betrachtete es fasziniert. Etwas Ähnliches trug auch Disa; eine Robe aus einem weichen seidigen Stoff, der wie fließendes Wasser aussah, und in dem Edelsteine funkelten, die in das Gewand hineingewebt waren. Pamina hatte noch nie ein solches Gewand tragen dürfen. Doch als die Wache Papagena ergriff, und das Vogel-Mädchen einen entsetzten Schrei aus-stieß, vergaß Pamina das prächtige Kleid und warf sich dazwischen.
»Nein! Ich habe ihr versprochen… Laßt sie los!«
»Sei still, Pamina«, sagte Kamala zornig. »Du hast kein Recht, dich einzumischen.«
»Ihr habt nicht das Recht, sie als Opfer wegzuschleppen. Ich werde es nicht zulassen!«
Kamala glitt schnell an ihre Seite und packte sie am Arm.
»Sie bewegt sich«, dachte Pamina, »wie eine angreifende Schlange.« Kamala flüsterte: »Halte den Mund, kleine Närrin.
Es ist der Wille der Sternenkönigin, und es steht weder dir noch mir zu, ihre Entscheidungen in Frage zu stellen. Hier geschieht nichts gegen ihren Willen. Du bist ein Kind, und mehr mußt du nicht wissen.«
Pamina sah sie mit großen Augen an. Sie hatte das Gefühl, ihre Halbschwestern noch nie gesehen zu haben. Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, daß auch sie Halblinge waren. Pamina wußte zwar schon lange, daß Kamala und Disa und die dritte Schwester Zeshi, die Große Schlange zum Vater hatten. Doch erst in diesem Augenblick begriff sie, was das bedeutete.
Bin ich also auch ein Halbling, kann man mich auch für das Opfer bestimmen? überlegte sie. Aber nein, ich bin die Tochter der Sternenkönigin…
Die drei anderen waren es auch…
»Nein«, erwiderte Pamina, obwohl sie fürchtete, die Worte würden ihr im Mund steckenbleiben, »das glaube ich
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