Tochter der Nacht
nicht, daß sie die Dienerschaft – die Halblinge – böse und grausam behandelte, doch die Sternenkönigin war nicht umzustimmen.
Sie floh aus dem Palast des Sonnenkönigs und nahm Pamina mit sich in den Tempel der Nacht. Dort schwor sie Sarastro und dem Haus Atlas ewige Feindschaft. Sarastro schmerzte der Verlust; trotz all ihrer Überheblichkeit, trotz all ihres Stolzes hatte er die Sternenkönigin aus ganzem Herzen geliebt und liebte sie noch immer. Aber sein Vater haßte die Frau, mit der er seinen Sohn verheiratet hatte, und sagte: »Laß ab von ihr. Sie ist böse, wie alle aus ihrem Geschlecht. Eines Tages wirst du eine andere Frau finden, und sie wird dir einen Sohn schenken, in dem nicht das Blut der Schlange fließt.«
∗ ∗ ∗
Bald darauf starb der große Priester und König von Atlas-Alamesios, und Sarastro bestieg den Thron seiner Vorväter.
Er nahm keine andere Frau, sondern wartete darauf, bis Pamina erwachsen sein würde.
Und hier beginnt unsere Geschichte.
Erstes Kapitel
Über den Mond floß Blut.
Die zierliche und zarte Prinzessin Pamina stand auf dem Balkon und blickte erschrocken auf den fahlen, blutroten Nebel, der über das Gesicht der silbernen Scheibe, über das Gesicht des Mondes kroch. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Von tief unten, aus der Stadt, die sich jetzt nur als eine Häufung schwarzer Flecken in der dunklen Nacht abzeichnete, drang ein gedämpfter Laut wie eine Klage herauf; sie hörte von ferne die entsetzte Klage über den roten Schleim, der die silberne Reinheit auf dem Gesicht der Nacht verschlang. Pamina glaubte, auch klagen zu müssen. Sie wollte auf die Knie fallen und in Angst und Demut weinen.
Aber sie war neun Jahre alt und die jüngste Tochter der Sternenkönigin. Man hatte Pamina gelehrt, selbst wenn sie allein war und in ihren eigenen Gemächern, Würde zu wahren, denn eines Tages sollte sie über all diese Menschen herrschen. Sie konnte nicht davonlaufen und sich in ihren Räumen verbergen, um vor Angst und Furcht zu weinen. Doch sie spürte das Entsetzen in sich. Welches Verbrechen war in der Nacht geschehen, und warum stellte ihre Mutter, die Herrin der Nacht, nicht augenblicklich wieder Ordnung her?
Im Gemach hinter Pamina regte sich etwas. Dann sah sie die schattenhafte Gestalt ihrer Halbschwester Disa, der ältesten Tochter der Sternenkönigin.
»Du mußt sofort kommen, Pamina.« Es wäre ungerecht zu behaupten, daß Disas Stimme unfreundlich klang; dazu war sie viel zu gleichgültig. »Du bist kein Kind mehr. Hat unsere Mutter dir nicht gesagt, daß du mit uns an der Prozession teilnehmen sollst?«
»Ich wußte nicht, daß zu einer solchen Zeit Prozessionen stattfinden«, erwiderte Pamina und spürte, wie ihr das Herz heftig in der Brust klopfte. Prozessionen? Sie sind Sache von Sonnenschein und Freude und nichts für diese dunkle Nacht voller Angst und Schrecken.
Doch Disas Worte waren auch auf eine unbestimmte Weise tröstlich. Ihre Mutter wußte um das Böse am Himmel, und war sie nicht die Sternenkönigin? Also es würde etwas getan werden, um das schreckliche Blut vom Mond zu entfernen und die beängstigende Dunkelheit zu beenden, die über der Nacht lag. Pamina ging gehorsam in ihr Gemach. Dort erwartete sie ihre Dienerin, ein Halbling aus dem Hunde-Volk. Sie war eine kleine, rundliche Frau mit weichen, haarigen Hän-geohren. Über ihren ausgestreckten, pfotenähnlichen Händen lagen drei Prozessionsgewänder.
»Welches Gewand möchte meine kleine Herrin heute tragen?«
Ihre Stimme klang nicht ganz wie ein Bellen, auch nicht wie ein Winseln, doch etwas von beidem lag darin; und Pamina war sie lieb und vertraut. Sie wußte, daß sie im Mittelpunkt von Rawas Leben stand. Die haarigen Arme hatten sie gewiegt, und an den weichen Körper geschmiegt, hatte sie Trost gefunden, solange sie denken konnte. Doch seit sie alt genug war, um etwas zu verstehen, hatte man ihr erklärt, als Hunde-Halbling könne Rawa natürlich keine eigene Wahl oder Entscheidung treffen; wie alle vom Hunde-Volk wartete sie in allem auf das Wort ihrer Herrin.
Pamina wußte nicht, welches das richtige Gewand für eine Prozession zu dieser ungewöhnlichen Zeit war und wandte sich fragend an Disa. Ihre Halbschwester musterte stirnrunzelnd die drei Roben.
∗ ∗ ∗
»Sie sind alle unpassend«, erklärte Disa schließlich ärgerlich, und dabei enthüllte das Licht ihre kleinen schmalen Nasenflügel und das merkwürdig flache Gesicht. »Sind keine rituellen
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