Tochter des Glueck
Schritte hallen vom Marmor und den Fliesen wider. Ich schlüpfe in eine Telefonzelle und schließe die Tür. Über mir geht ein Licht an, und ich sehe mein Spiegelbild in der Glasscheibe.
Meine Mutter mahnte mich immer, mich nie wie ein Pfau zu benehmen. »Du willst doch nicht wie deine Tante werden«, schalt sie mich stets, wenn sie mich bei einem Blick in den Spiegel erwischte. Doch jetzt weiß ich: Sie wollte nicht, dass ich zu genau hinsah. Denn wenn ich jetzt hinsehe, und zwar richtig , erkenne ich, wie sehr ich Tante May ähnele. Meine Augenbrauen haben die Form von Weidenblättern, ich habe einen hellen Teint, meine Lippen sind voll, und mein Haar ist schwarz wie Onyx. Meine Familie hat immer darauf bestanden, dass ich es lang trage, und früher konnte ich sogar darauf sitzen. Aber Anfang dieses Jahres ging ich in einen Frisiersalon in Chicago. Ich wollte einen Kurzhaarschnitt wie den von Audrey Hepburn. Die Friseuse bezeichnete das als Pixie-Schnitt. Jetzt trage ich die Haare kurz wie ein Junge, und sie glänzen selbst hier im schwachen Licht der Telefonzelle.
Ich schütte meinen Münzgeldbeutel auf der Ablage aus, wähle Joes Nummer und warte darauf, dass die Telefonistin mir sagt, wie viel die ersten drei Minuten kosten werden. Ich stecke die Münzen in den Schlitz. Es klingelt. In Chicago ist es kurz vor fünf Uhr morgens, ich wecke ihn also auf.
»Hallo?« Er klingt verschlafen.
»Ich bin’s.« Ich bemühe mich, begeistert zu klingen. »Ich bin weggelaufen. Ich bin bereit, endlich zu tun, worüber wir bisher nur gesprochen haben.«
»Wie viel Uhr ist es?«
»Du musst aufstehen. Packen. Steig in ein Flugzeug nach San Francisco. Wir gehen nach China. Du hast gesagt, wir sollten Teil dessen sein, was dort passiert. Also los!«
Durch das Telefon höre ich, wie er sich umdreht und aufsetzt.
»Joy?«
»Ja, ja, ich bin’s. Wir gehen nach China!«
»China? Du meinst die Volksrepublik China? Herrgott, Joy, es ist mitten in der Nacht. Ist alles in Ordnung? Ist irgendwas passiert?«
»Du hast mich extra einen Reisepass beantragen lassen, damit wir zusammen hinfahren können.«
»Spinnst du?«
»Du hast gesagt, wenn wir nach China gehen, arbeiten wir auf den Feldern und singen Lieder«, fahre ich fort. »Wir machen Gymnastik im Park. Wir helfen, das Wohnviertel sauber zu halten, und teilen die Mahlzeiten mit den anderen. Wir wären nicht arm, und wir wären nicht reich. Wir wären alle gleich.«
»Joy …«
»Chinese zu sein und das auf den Schultern und im Herzen zu tragen, kann eine Last sein, aber auch ein Quell der Hoffnung und der Freude. Auch das hast du gesagt.«
»Klar haben wir darüber geredet, was gerade in China passiert, aber ich habe hier eine Zukunft – das Zahnmedizinstudium, die Praxis meines Vaters … Ich hatte nie ernsthaft vor, wirklich hinzufahren.«
Als ich seinen spöttischen Tonfall höre, frage ich mich, worum es bei all den Treffen und dem ganzen Gerede eigentlich gegangen war. Waren die Gespräche über Gleichberechtigung, geteilten Wohlstand und die Vorzüge des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus nur ein Weg, um mir an die Wäsche zu gehen? (Nicht, dass ich ihn gelassen hätte.)
»Man würde mich umbringen, und dich genauso«, sagt er abschließend und verkündet damit dieselbe Propaganda wie Onkel Vern schon den ganzen Sommer.
»Aber es war doch deine Idee!«
»Hör mal, es ist mitten in der Nacht. Ruf mich morgen an. Nein, lieber nicht. Das ist zu teuer. Du bist doch in ein paar Wochen wieder hier. Dann können wir darüber reden.«
»Aber …«
Die Leitung ist tot.
Ich will mich auf keinen Fall durch meine Wut und Enttäuschung über Joe von meinem Plan abbringen lassen. Meine Mom hat immer versucht, meine besten Charaktereigenschaften zu fördern. Wer im Jahr des Tigers geboren wird, ist romantisch und künstlerisch veranlagt, aber sie hat mich immer gewarnt, dass es auch in der Natur des Tigers liegt, voreilig und impulsiv zu handeln, mit einem großen Satz davonzuspringen, wenn die Umstände widrig sind. Meine Mutter hat sich bemüht, diese Eigenschaften in mir nicht zum Vorschein kommen zu lassen, doch der Drang, zu springen, ist überwältigend, und ich lasse mich nicht von diesem Rückschlag aufhalten. Ich bin entschlossen, meinen Vater zu finden, selbst wenn er in einem Land mit über 600 Millionen Einwohnern lebt.
Ich gehe wieder nach draußen. Das Taxi steht immer noch da. Der Fahrer schläft auf dem Vordersitz. Ich klopfe ans Fenster, mit einem
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