Tochter des Glueck
werden sie froh sein, dass ich weg bin. Vielleicht.
Ich lasse das Beutelchen los und wische mir die verschwitzten Hände am Rock ab. Ich bin verunsichert – wer wäre das nicht? –, doch ich darf mir jetzt keine Sorgen darüber machen, welche Auswirkungen mein Handeln auf meine Mom und meine Tante hat. Ich liebe sie beide, aber ich bin auch wütend auf sie und habe Angst davor, was sie vielleicht von mir denken – und für mich steht fest, dass ich immer »Tante« zu May sagen werde und Pearl für mich Mom bleiben wird. Sonst verwirrt mich das alles noch mehr als sowieso schon. Säße Hazel jetzt neben mir, würde sie sagen: »Ach, Joy, du bist so eine Chaotin.« Zum Glück ist sie nicht hier.
Eine Ewigkeit später landen wir in Hongkong. Ein paar Männer rollen eine Treppe ans Flugzeug, und ich gehe mit den anderen Passagieren von Bord. Von der Rollbahn steigen Hitzewellen auf, die Luft ist erstickend heiß, und die Luftfeuchtigkeit ist noch höher als bei meiner Abreise aus Chicago im Juni. Ich folge den anderen Passagieren in den Terminal und durch einen düsteren Gang in einen großen Raum, wo sich vor den Passkontrollen viele Schlangen gebildet haben. Als ich an der Reihe bin, fragt mich der Mann mit abgehacktem britischem Akzent: »Was ist Ihr endgültiges Reiseziel?«
»Shanghai in der Volksrepublik China«, antworte ich.
»Treten Sie auf die Seite!« Er telefoniert, und innerhalb von Minuten werde ich von zwei Wachen abgeholt. Sie bringen mich zum Gepäckbereich, wo ich meinen Koffer heraussuche, dann führen sie mich durch weitere finstere Korridore. Ich sehe keine anderen Passagiere, nur Männer in Uniform, die mich misstrauisch mustern.
»Wo gehen wir hin?«
Eine der Wachen beantwortet meine Frage durch unsanftes Zerren am Arm. Schließlich gelangen wir zu einer Doppeltür. Wir gehen hindurch und befinden uns wieder in der entsetzlichen Hitze. Ich werde hinten in einen fensterlosen Transporter geschoben, man sagt mir, ich soll still sein. Die Wachmänner steigen vorne ein, wir fahren los. Ich sehe überhaupt nichts. Ich verstehe nicht, was vor sich geht, und ich fürchte mich – ich bin starr vor Angst, um ehrlich zu sein. Mir bleibt nichts anderes, als mich festzuhalten, während der Transporter um scharfe Kurven und über holprige Straßen fährt. Nach einer halben Stunde hält er an. Die Wachmänner kommen zur Rückseite des Wagens. Sie unterhalten sich ein paar Minuten, während ich schwitzend im Inneren sitze und mir Sorgen mache. Schließlich werden die Türen geöffnet. Wir befinden uns an einem Kai, wo ein großes Schiff Fracht aufnimmt. Das Schiff fährt unter der Flagge der Volksrepublik China – fünf goldene Sterne auf einem roten Hintergrund. Derselbe unfreundliche Wachmann wie vorhin zerrt mich aus dem Wagen und auf den Landungssteg.
»Wir wollen nicht, dass ihr den Kommunismus hier verbreitet.« Er herrscht mich fast an, als er mir meinen Koffer reicht. »Machen Sie, dass Sie an Bord kommen, und steigen Sie bloß nicht aus, bevor Sie in China sind.«
Die beiden Wachmänner bleiben am Ende des Landungsstegs stehen, um sich zu vergewissern, dass ich auch an Bord gehe. Das alles ist eine Überraschung – eine verstörende Überraschung, die nichts Gutes verspricht. Am anderen Ende des Landungsstegs steht ein Matrose. Nein, so würde man wohl nicht sagen. Ich glaube, er ist ein Besatzungsmitglied. Er spricht schnell auf Mandarin mit mir, der offiziellen Sprache Chinas, eine Sprache, in deren reiner Form ich mich nicht ganz sicher fühle. Meine Mutter und meine Tante haben sich immer im Shanghaier Wu-Dialekt unterhalten – mein ganzes Leben lang. Ich glaube, ich beherrsche ihn gut, aber lange nicht so gut wie das Kantonesische, das üblicherweise in Chinatown gesprochen wurde. Mit meiner Familie habe ich immer ein bisschen Kantonesisch, ein bisschen Shanghaier Dialekt und ein bisschen Englisch gesprochen. Englisch werde ich von jetzt an wahrscheinlich gänzlich aufgeben.
»Könnten Sie das noch einmal sagen, und ein bisschen langsamer, wenn möglich?«, frage ich.
»Kehrst du ins Land deiner Vorfahren zurück?«
Ich nicke, ziemlich sicher, dass ich ihn richtig verstanden habe.
»Gut, willkommen! Ich zeige dir dein Quartier. Dann bringe ich dich zum Kapitän. Bei ihm zahlst du deine Fahrkarte.«
Ich drehe mich zu den beiden Wachmännern um, die immer noch am Kai stehen und mich beobachten. Ich winke ihnen, wie eine Idiotin. Dann folge ich dem Besatzungsmitglied. Als ich jünger
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