Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
bekam schließlich eine Haftstrafe. Erst da merkten seine Eltern, dass er nicht mehr Medizin studierte. Dass er das Fach gewechselt und sich auf dem Gebiet der angewandten Chemie selbständig gemacht hatte.
Der Gefängnisaufenthalt war gar nicht so schlimm. Die Zelle war ziemlich geräumig und bequem. Das Schlimmste aber war, wieder in den Norden ziehen zu müssen. Körperlich und seelisch zerstört.
Jónatan hatte inzwischen mit Mühe den Hang erklommen. Er blieb im milden Sommerwetter stehen und streckte sich. Sein Rücken schmerzte gehörig, aber es war schon oft schlimmer gewesen.
Er schleppte sich ins Haus. Dieses kleine, baufällige Haus, für das seine Geschwister zusammengelegt hatten. Sein Blick fiel auf den Gehstock, der auf der alten Heizung im Flur lag. Der gesegnete Stock.
Jónatan legte sich erschöpft ins Bett. Er musste sich ein bisschen ausruhen.
In der Nacht würde er bestimmt schlecht schlafen.
Er konnte das Licht nicht ausstehen, die Mitternachtssonne, die alle so schön fanden. Die ganze Nacht lang war es hell. Zwar hatte er dicke, dunkle Vorhänge gekauft, aber das Licht fand meistens doch einen Weg ins Schlafzimmer.
Für ihn waren die hellsten Nächte die dunkelsten.
Und er wusste genau, warum.
24 . Kapitel
Es wurde schon Abend, als Ísrún Dalvík erreichte, was jedoch nur an der Uhr ablesbar war. Der Juniabend war sonnig und hell, der Tag im Norden noch länger als im Süden.
Sie stand vor dem Haus, in dem Elías’ engster Mitarbeiter wohnte, Svavar Sindrason. Zweiundvierzig Jahre alt. Alleinstehend. Kommi hatte sie auf halber Strecke angerufen und gefragt, ob sie was Neues für die Abendnachrichten hätte. Sie hatte ziemlich unwirsch verneint und gesagt, das brauche Zeit. Bei der Gelegenheit hatte sie ihn gebeten, Auskünfte über Svavar einzuholen, den sie treffen wolle, das Gespräch mit Ríkharður Lindgren jedoch nicht erwähnt. Kommi, ein absoluter Profi, hatte gute Arbeit geleistet, sie kurz darauf zurückgerufen und ihr diverse Infos über Svavar gegeben: Geburtstag, Familienverhältnisse und so weiter. Ísrún grinste in sich hinein, weil Kommi auf einmal ihr half und nicht umgekehrt, wie Ívar es gerne gewollt hätte.
Svavar hatte kein besonders ereignisreiches Leben geführt, im Internet und in den Medien war kaum etwas über ihn zu finden. Sein Name war lediglich auf Sportseiten in alten Tageszeitungen aufgetaucht, weil er eine Zeitlang in der Handball-Nationalliga gespielt hatte.
In seiner Straße standen dicht gedrängt alte und ehrwürdige Häuser. Ísrún klingelte an Svavars Haustür. Sie musste sich kein bisschen überwinden, abends einen fremden Mann zu behelligen. Als Journalistin hatte sie sich längst ein dickes Fell zugelegt. Die Nachrichten waren das Wichtigste, standen an erster, zweiter und dritter Stelle. Sie hatte zwar das Ziel, professionell und gründlich zu arbeiten, wusste aber, dass sie fremden, ahnungslosen Leuten durch ihren Job bisweilen Unannehmlichkeiten bereitete. Wenn sie so etwas zu nah an sich herankommen ließ, musste sie sich einen anderen, ruhigeren Job suchen.
Nach einer geraumen Weile kam endlich jemand zur Tür.
Der Mann wirkte müde.
»Guten Abend«, sagte er mit leiser Stimme.
»Ich würde gerne mit Ihnen über Elías sprechen«, sagte Ísrún unumwunden. »Ich bin den ganzen Weg von Reykjavík hergefahren, um Sie zu treffen.« Ein bisschen Übertreibung schadete nicht. »Hätten Sie zehn Minuten Zeit für mich?«
Svavar schien keine Einwände zu haben.
»Kommen Sie rein.«
Das ließ Ísrún sich nicht zweimal sagen. Sie stand schon im Wohnzimmer, als er noch murmelte: »Sind Sie nicht … bei den Nachrichten?« Er starrte auf die Narbe in ihrem Gesicht.
Das Wohnzimmer wirkte wie ein geschmacklos eingerichtetes Sommerhaus: Die bunt durcheinandergewürfelten Möbel entbehrten jeglichen Charmes, und die paar Bücher in dem kleinen Regal stammten aus allen möglichen Richtungen, als hätte jemand sie dort vergessen. Der Unterschied zwischen einem Haus und einem Heim konnte in der Tat sehr groß sein.
Ísrún bejahte Svavars Frage.
Er schaute sich suchend um.
»Und wo ist der, Sie wissen schon …«, murmelte er.
»Wer?«
»… na, Sie wissen schon, der Kameramann.«
»Der ist noch in Reykjavík. Ich recherchiere erst mal, führe wenn nötig Interviews. Ein bisschen Vorbereitungsarbeit.« Sie achtete sorgfältig darauf, das Zauberwort »inoffiziell« nicht in den Mund zu nehmen. Dieses Gespräch hatte nämlich nichts
Weitere Kostenlose Bücher