Tote erinnern sich (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
Friede und Heiligkeit das Land regierten.«
»Aber Weib!«, rief ich wild, »Ich kann das nicht als Geschenk von Euch annehmen. Ihr könnt nicht wissen, wie wertvoll es ist! Allein sein materieller Wert entspricht einem Vermögen, und als Reliquie ist es unbezahlbar …«
»Genug!« Ihre tiefe Stimme zwang mich zum Schweigen. »Genug solch ketzerischer Reden. Das Kreuz des Heiligen Brandon ist unschätzbar. Es ist nie mit Gold besudelt worden; es hat den Besitzer immer nur als Geschenk gewechselt. Ich gebe es Euch, um Euch gegen die Mächte des Bösen zu schützen. Sagt nichts mehr.«
»Aber es war dreihundert Jahre lang verschwunden!«, rief ich aus. »Wie – wo …?«
»Ein heiliger Mann hat es mir vor langer Zeit gegeben«, erwiderte sie. »Ich habe es an meinem Busen versteckt – dort lag es lange Zeit. Aber jetzt gebe ich es Euch; ich bin aus einem fernen Land gekommen, um es Euch zu geben, denn im Wind vollziehen sich unheimliche Geschehnisse, und dieses Kreuz ist Schwert und Schild gegen das Volk der Nacht. Uraltes Böses regt sich in seinem Gefängnis, das blinde Hände der Torheit aufbrechen könnten, aber stärker als alles Böse ist das Kreuz des Heiligen Brandon, das in der langen, langen Zeit, seit jenes vergessene Böse auf die Erde fiel, Kraft und Macht gesammelt hat.«
»Aber wer seid Ihr?«, rief ich aus.
»Ich bin Meve MacDonnal«, antwortete sie.
Dann drehte sie sich wortlos um und schritt im dunkler werdenden Zwielicht davon, während ich verwirrt dastand und ihr dabei zusah, wie sie die Landzunge überquerte. Schließlich entschwand sie meinen Blicken, als sie sich landeinwärts wandte und den Kamm hinter sich ließ. Dann setzte auch ich mich in Bewegung, schüttelte mich wie aus einem Traum erwacht, ging langsam den Abhang hinauf und über die Landzunge. Als ich den Kamm überquerte, war mir, als wäre ich aus der einen Welt in eine andere gegangen. Hinter mir lagen die Wildnis und die Trostlosigkeit eines bizarren Mittelalters, vor mir pulsierten die Lichter und der Verkehrslärm des modernen Dublin. Nur einen leicht altertümlichen Anklang hatte das Bild, das vor mir lag: Ein Stück landeinwärts tauchten – überwuchert von Unkraut und im Dämmerschein kaum wahrnehmbar – die zerfallenen Grenzlinien eines alten, lang verlassenen Friedhofs auf. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich eine hochgewachsene Gestalt, die sich gespensterhaft zwischen den zerbröckelnden Grabmälern bewegte, und ich schüttelte verwirrt den Kopf. Meve MacDonnal musste geistesgestört sein und in der Vergangenheit leben, wie jemand, der aus der Asche des toten Gestern die Flamme zu neuem Leben erwecken will. Ich setzte mich in Bewegung, dorthin, wo nicht weit entfernt immer mehr Lichter aufflammten und zum Lichtermeer von Dublin wurden.
In dem Hotel in der Vorstadt angelangt, wo Ortali und ich unsere Zimmer hatten, erzählte ich ihm nichts von dem Kreuz, das die Frau mir gegeben hatte. Daran zumindest sollte er keinen Anteil haben. Ich hatte die Absicht, das Kreuz zu behalten, bis Meve MacDonnal es von mir zurückforderte. Und dass sie das tun würde, stand für mich fest. Als ich mich jetzt an ihr Auftauchen erinnerte, fiel mir auch wieder das seltsame Aussehen ihrer Kleidung ein – und ganz besonders ein Gegenstand, dessen Anblick sich in mein Unterbewusstsein geschlichen hatte, der mir aber nicht bewusst geworden war. Meve MacDonnal hatte Sandalen von einer Art getragen, wie man sie in Irland seit Jahrhunderten nicht mehr benutzte. Nun, vielleicht war es ganz natürlich, dass sie mit ihrem rückwärts gewandten Wesen die Kleidung der Vergangenheit imitierte, die ihr ganzes Denken prägte.
Ich drehte das Kreuz andächtig in meiner Hand. Es bestand kein Zweifel, dass es genau das Kreuz war, nach dem Antiquare so lange vergebens gesucht und dessen Existenz sie zuletzt in ihrer Verzweiflung geleugnet hatten. Der gelehrte Priester Michael O’Rourke beschrieb die Reliquie in einer um 1690 geschriebenen Abhandlung ausführlich, berichtete erschöpfend über ihre Geschichte und behauptete, man habe zuletzt von ihr gehört, als sie sich im Besitz von Bischof Liam O’Brien befunden hatte, der sie bei seinem Tod 1595 der Obhut einer Verwandten übergab; aber wer diese Frau war, wurde nie bekannt, und O’Rourke behauptete, dass sie den Besitz des Kreuzes geheim gehalten und es schließlich mit ins Grab genommen hatte.
Zu einer anderen Zeit wäre meine Freude darüber, dass ich dieses Heiligtum entdeckt hatte,
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