Totensonntag
ordnete er auch seine Gedanken. Und wenn dann alles auf dem Schreibtisch an der richtigen Stelle lag, ging Schwiete in der Regel nach Hause, ohne in seiner Freizeit noch großartig über seine Fälle nachzudenken.
Anschließend klemmte er sich seine Aktentasche unter den Arm, öffnete die Bürotür, trat auf den Flur hinaus und sah in grüne Augen, sah dieses vorsichtige Lächeln, das einen etwas zu breiten Mund umspielte.
Schwiete war ein Einzelgänger. Manche Leute hielten ihn sogar für asexuell. Natürlich war er früher öfter mal verliebt gewesen. Ganz heimlich, für sich. Doch er war einfach zu schüchtern, um mit einer Frau anzubandeln, zu korrekt, zu formal. Das kam anscheinend bei Frauen nicht an, glaubte Schwiete. Und bevor er sich eine Strategie überlegt hatte, wie er die Dame seines Herzens hätte ansprechen können, kam ein Sonnyboy mit blitzenden Augen und Grübchen und schnappte ihm seine Angebetete vor der Nase weg. So war es in Schwietes Erinnerung immer gewesen, und daher hatte er irgendwann aufgehört, sich über eine Partnerschaft Gedanken zu machen.
Er war zu allen Frauen höflich und zuvorkommend. Nicht mehr und nicht weniger. Punkt! Allerdings konnte ihn dadurch keine Frau aus seiner Ecke locken – da mochte sie noch so schön sein und eine noch so erotische Ausstrahlung haben.
Doch jetzt, da er in dieses Gesicht sah, in das sich deutliche Spuren des Lebens eingegraben hatten, war plötzlich alles anders. Er bekam feuchte Hände, sein Mund wurde trocken, und er räusperte sich nervös. Nur weil eine Frau ihn anblickte, ihn ganz vorsichtig anlächelte.
Gern hätte er etwas gesagt, doch Krügermeyer, der hinter der Frau stand, kam ihm zuvor. »Horst, ich wollte dir Karen Raabe vorstellen. Sie ist Sozialarbeiterin. Frau Raabe hat sich Olga Solowjows angenommen.«
Schwiete räusperte sich wieder, und die Sozialarbeiterin lächelte. Komisch, dachte Schwiete, sie hat eigentlich einen harten Zug um den Mund. Wie bekommt sie da dieses sanfte Schmunzeln hin?
»Äh ja.« Dieser verdammte trockene Mund. »Kommen Sie doch herein.«
»Vielen Dank, Herr Kommissar, aber ich wollte mich wirklich nur kurz vorstellen. Ich habe gleich noch einen Termin und zu einem Gespräch heute Abend keine Zeit mehr. Wenn Sie damit einverstanden sind, melde ich mich morgen bei Ihnen.«
Frau Raabe lächelte. Schwiete räusperte sich erneut. Dann kramte er umständlich eine Visitenkarte aus der Manteltasche und reichte sie der Frau.
»Ja, morgen ist in Ordnung«, sagte Schwiete und stand wenige Sekunden später verwirrt und einsam in der Türöffnung seines Büros.
Die Lichtstrahlen einer nahen Straßenlaterne spiegelten sich auf der dunklen Wasseroberfläche des Tümpels. Die niedrigen kurzen Wellen, die der Wind auf den kleinen Weiher zeichnete, wirkten wie eine Decke aus filigranem Silber. Doch Schwiete hatte für dieses Schauspiel heute Abend gar keinen Sinn. Er schlug immer wieder vorsichtig mit einem langen dünnen Zweig auf die Wasseroberfläche. Grüne Augen mit einem intensiven, selbstbewussten Blick bildeten sich im Wasser ab und sahen Schwiete an. Im nächsten Moment waren auch ein etwas zu breiter sinnlicher Mund zu sehen und dann das ganze Gesicht einer Frau, zu dem dieser Mund und diese Augen gehörten.
Ein großer, rotgoldener Koi-Karpfen kam herangeschwommen und zog immer engere Kreise um die Stelle, an der Schwietes Gedanken das Antlitz dieser Frau gezeichnet hatten. Durch sein Auftauchen zerstörte der Fisch das Phantasiegebilde auf der Wasseroberfläche.
Schwiete befand sich wieder im Hier und Jetzt. Er lächelte versonnen und wunderte sich zugleich über das, was gerade passiert war. Mechanisch, den Blick jetzt auf den Koi-Karpfen gerichtet, kramte er in seiner Tasche und zauberte einige Stücke trockenes Weißbrot hervor, die er dem Fisch hinwarf. Der begann, die sich aufweichenden Brotkrumen genüsslich zu verzehren.
Der Polizist hatte den Karpfen vor einigen Jahren während eines Spaziergangs hier in diesem Tümpel nahe der Stadtbibliothek entdeckt. Seither kam Schwiete regelmäßig in den Park, um den Fisch zu füttern. Durch rhythmisches Klopfen mit einem dünnen Stöckchen auf die Wasseroberfläche signalisierte er dem Fisch seine Anwesenheit. Der Koi kam dann meist zügig angeschwommen, um das Dargebotene an Ort und Stelle zu verspeisen.
Normalerweise saß Schwiete dann da und sah dem Geschehen zu, entspannte sich und hatte nach einiger Zeit seine innere Ruhe zurückerlangt. Doch
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