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Totsein verjaehrt nicht

Titel: Totsein verjaehrt nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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die zwei kleinen Tische, die Stühle und das Kruzifix an der Wand. In der Schublade des Nachtkästchens in Zimmer 105, fiel Fischer jetzt ein, lag keine Bibel.
    Sekundenlang dachte er an das Nachtkästchen und die leere Schublade und an sonst nichts.
    Als jemand die Eingangstür öffnete, flackerten die Kerzen am Trauertisch. Fischer nahm das Flackern wahr wie eine sturmvolle Welle in seinem Kopf. Das war es doch, worauf er die ganze Zeit geduldig und unbändig zugleich wartete: dass Ann-Kristin hereinkam und sagte: »Entschuldigung für die Verspätung.«
     
    »Entschuldigung für die Verspätung.«
    Hinter der Garderobenwand tauchte ein groß gewachsener Junge mit langen, dünnen schwarzen Haaren auf. Er trug einen abgeschabten schwarzen Ledermantel und hatte Ringe an den Fingern. Sein Gesicht war weiß wie die frisch gestrichenen Wände im Zimmer 105, und er verströmte den Geruch nach ungelüfteten Kneipen.
    »Sie sind der Herr Fischer«, sagte er.
    Die Trauergäste, die beiden Frauen am Nebentisch, die Bedienung und ein Mann am letzten Tisch in der Ecke, den Fischer erst jetzt bemerkte, sahen den Jungen an. Regungslos ragte er ins kühle Licht der Tropfenlampen. Er blinzelte. Vielleicht hatte er sich geschminkt, vielleicht waren die Schatten unter seinen Augen Zeugnisse eines aufreibenden Lebenswandels.
    »Setzen Sie sich«, sagte Fischer.
    »Wohin?«
    Am Tisch waren fünf Stühle frei. Fischer zeigte auf den Stuhl an der Längsseite.
    »Okay.« Ohne den Mantel auszuziehen, nahm der JugendlichePlatz, gekrümmt. Er wusste nicht wohin mit den Händen. Erst legte er die eine Hand, dann die andere auf den Tisch. Er rieb sich über die Oberschenkel und zuckte zusammen, als die Bedienung ihn ansprach.
    »Was willst du trinken?«
    »Nichts.«
    »Ich lade Sie ein, Marcel«, sagte Fischer.
    Er zögerte. »Haben Sie Bionade?«
    »Nein«, sagte die Bedienung.
    »Eine Cola, bitte.«
    Die übrigen Gäste wandten sich ab, das Schnuppern der beiden Frauen am Nebentisch blieb unüberhörbar.
    »Ich hab gewusst, dass Sie kommen«, sagte Marcel. »Danke für die Mail.«
    In dem Brief hatte er seine Adresse angegeben, und Fischer hatte ihm vom Dezernat aus geantwortet – ohne Wissen seines Vorgesetzten, ohne Wissen des Polizeipräsidenten, die den Brief ebenfalls gelesen hatten, ohne Wissen eines einzigen Kollegen. Der Fall war abgeschlossen und Fischer schon am Tag der Urteilsverkündung nicht mehr zuständig gewesen.
    Die Bedienung brachte die Cola. »Möchten Sie noch ein Wasser?«
    »Später«, sagte Fischer.
    Vor ihm lag Marcels Brief in einem braunen Umschlag. Marcel hatte schon mehrmals hingesehen, aber nichts gesagt. Jetzt trank er einen Schluck und warf dem Kommissar einen schnellen Blick zu. Sprich, dachte Fischer, weil er selbst kein Wort hervorbrachte, sprich mit mir, sprich einfach immer weiter.
    Nach einer Weile sagte Marcel: »Sind Sie sauer auf mich?«
    »Wieso denn?« Fischer beugte sich vor, faltete die Hände im Schoß. Die Stimme des Jungen klang heiser. Aber es war eine Stimme, die Stimme eines anwesenden Menschen.
    Wieder musste Marcel zum Weitersprechen Mut fassen. »Sie waren zuständig für die Scarlett. Und Sie hätten sie auch gefunden, wenn Sie sie weiter hätten suchen dürfen, da bin ich total sicher.«
    »Ich hätte Scarlett auch nicht gefunden.« Wieso er das gesagt hatte, begriff Fischer nicht.
    »Doch. Die anderen haben überhaupt nicht richtig nach ihr gesucht. Die haben gesagt, sie ist tot, und damit war alles klar. Aber ich hab sie gesehen, und sie lebt. Und deswegen sind Sie hier, weil Sie immer gespürt haben, dass sie noch lebt.« Hastig trank Marcel zwei Schluck Cola. »Ich hab sie erkannt und sie mich auch. Wieso ist der Brief in so einem Umschlag? Das ist nicht meiner. Wieso haben Sie einen anderen genommen?«
    Fischer zog den Brief aus dem DIN-A5-Kuvert. »Du hast ans Polizeipräsidium geschrieben, meine Kollegen haben den Brief dann an mich weitergeleitet.«
    »Haben die den Brief gelesen?«
    »Ja.«
    »Das ist verboten. Es gibt ein Briefgeheimnis.«
    Fischer faltete das beschriebene Blatt auseinander. »Sie sind zu spät gekommen.« Er hörte sich reden wie ein Polizist, der nach einem Alibi fragte. Wieso saß er dann hier, in einem Gasthaus, ohne Protokollantin, ohne Aufnahmegerät? Er hatte keine Befugnis. Sprich, dachte er, sprich doch weiter, Marcel.
    Der Schüler blinzelte verwirrt. Unter seiner Antwort schien er sich zu krümmen. »Sie können Du zu mir sagen. Hab nachsitzen

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