Vaethyr: Die andere Welt
erforschen.
Sie erinnerte sich, einmal ein Buch im Arbeitszimmer ihres Vaters entdeckt zu haben, auf dessen Umschlag ein Muster in Silber eingeprägt war: ein fünfzackiger Stern mit einer Spirale dahinter, wie ein in einem Spinnennetz gefangener Stern. Jede Zacke des Sterns war mit einem seltsamen Wort beschriftet gewesen. Das Buch hatte sie seitdem nicht mehr gesehen, doch sie erinnerte sich des geheimnisvollen Zeichens mit lustvollem Schauder.
Im Flur klingelte das Telefon, dann hörte sie ein paar Minuten lang das Gemurmel ihrer Mutter.
»Bron?«, sagte Jessica, die in der Tür stand. Ihr goldenes Haar war zu einem wirren Halo aufgesteckt, ihre Kleider verrieten die Künstlerin. »Das war Phyllida. Im Dorf macht ein unglaubliches Gerücht die Runde.«
»Ach ja?« Während ihre Eltern einander ansahen, ließ Rosie sie nicht aus den Augen. In den grauen Augen ihrer Mutter lag Besorgnis, die braunen ihres Vaters sahen sie geduldig, aber wachsam an. Es war einer jener bedeutungsschwangeren geheimen Blicke, die sie ständig tauschten.
Ungläubig erzählte ihre Mutter: »Allem Anschein nach hat Ginny Wilder Lawrence heute Morgen verlassen. Sie verließ das Haus, während er die Jungs zurück zur Schule brachte. Also … hat sie es endlich wahr gemacht.«
Noch bevor die Zeremonie begann, wusste Auberon, dass etwas nicht stimmte.
An diesem warmen Sommerabend hatten sich fast zweihundert Vaethyr versammelt. Sie trugen Umhänge und Kapuzen in den sanften Farben der Dämmerung, ihre Gesichter hinter stilisierten Tiermasken versteckt, und warteten in einer Mulde auf der Hügelkuppe, die ein natürliches Amphitheater bildete. Leuchtkäfer schwirrten schimmernd umher. Es war eine Versammlung, wie Elfenwesen sie seit Jahrhunderten in heiligen Nächten abhielten.
Auberon hatte seinen Arm um Jessicas Taille gelegt. Sie trugen beide Fuchsmasken, seine zierten Granate und Jettsteine, ihre war von Halbmonden bekränzt. Jessicas Schwester Phyllida stand zusammen mit ihrem Ehemann Comyn dicht neben ihnen, beide trugen sie aus Gold und Onyx gefertigte Stiergesichter. Inmitten eines Meers juwelengeschmückter Wappenmasken – die alle Freias Krone, der Felsnase am Gipfel, zugewandt waren – warteten sie auf den Torhüter.
Die Schattenreiche gaben der Landschaft einen tintenschwarzen Anstrich und ließen die Sterne wie frostige Schleier erscheinen. Es war eine vor Anspannung zerbrechliche Schönheit. Da sie die meiste Zeit wie Menschen lebten, konnte man leicht vergessen, dass sie auch noch etwas anderes waren; aber in Nächten wie dieser empfand Auberon überall um sich herum den Schimmer der Macht. Er spürte das Zittern der Vaethyr-Gestalten, die es danach verlangte, ihre Gestalt zu verändern, vielleicht gewaltige Schwingen auszubreiten oder einfach nur übernatürlich zu leuchten; Vaethyr-Wahrnehmungen, die sich ausdehnten, um die vielen Schichten der Realität zu durchdringen. In seinem eigenen Körper spürte er das schmerzhafte Verlangen, sich zu einer imposanteren Gestalt zu entfalten, einer Waldgottheit, die stärker und weiser war als sein Menschenwesen … Sie brauchten diese Zeremonie, um sich mit ihren wahren, alten Ichs zu verbinden. Nachdem sie dann in der Schönheit Elysiums getanzt hatten, würden sie die heilenden Energien, die sich ihnen wie Schleppen grüngoldenen Lichts anhefteten, zur Erde zurückbringen.
Wenn Lawrence nur käme.
Dies war die Nacht der Sommersterne, das große Ritual, das alle sieben Jahre fällig war, wenn sich die Großen Tore zu den inneren Reichen auftaten. Schon viele Male war Auberon in der Vergangenheit dabei gewesen, wenn der Stab des Torhüters gegen den Stein schlug und die Felsen von Freias Krone zu leuchten begannen und sich verschoben, um die Großen Tore zu öffnen. Er hatte das Knirschen einer Haselnuss auf seiner Zunge genossen, wenn er durch den grenzenlosen Torbogen in die Anderswelt schritt. Es waren nur Erwachsene zugegen. Sobald seine Kinder sechzehn Jahre alt waren, würden auch sie initiiert werden.
Auberon runzelte die Stirn. Rosie und Lucas schienen ihr Elfenblut mit Freuden anzunehmen. Matthew jedoch nicht. Bisher war dem aber noch keiner auf den Grund gegangen. Vielleicht war es pubertäre Rebellion, die ihn die Augen verdrehen und sich abwenden ließ, sobald elfische Angelegenheiten zur Sprache kamen. Vielleicht , überlegte Auberon, ist es auch mein Fehler. Habe ich ihm etwa zu viel oder zu wenig erzählt? Wie soll man das als Eltern richtig
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