Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
Wohnung am Mierendorffplatz. An eine Kindheit, an der das Wirtschaftswunder vorübergegangen war. An kurze Hosen und lange Sommer. An den Kleingarten hinter dem Rohrdamm und an Pfirsiche, so groß wie Fußbälle. An Sonntage, die so lang und ruhig und still waren, dass sie nie zu enden schienen. An das Kopfsteinpflaster in der Kaiserin-Augusta-Allee, das im Regen glänzte, und an viele kleine Geschäfte, die verschwunden und von denen nur noch die heruntergelassenen Rollläden geblieben waren. Ich dachte an den Geruch von Holz und Kohle und gelben Smog im Winter. An Wachttürme und Selbstschussanlagen. Ans Schlittschuhlaufen auf der Spree, an Lagerfeuer hinter der Böschung des Westhafens. Ich dachte an vieles, wenn ich an Berlin dachte, aber nicht an Heimat.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Zuhause.«
Daran wollte ich nicht denken. Es war eine moderne Mietwohnung, in der es im Winter warm war und in der mein Bett, mein Tisch, mein Schrank und meine Mikrowelle standen.
»Meine Großeltern hatten eine. Als sie sie verloren haben, ist ein Teil von ihnen kaputtgegangen. Wenn ich hier sitze, dann kann ich sie verstehen. Aber es geht gar nicht ums Haben, sondern ums Sein. Ich bin hier. Ich kann leben, wo ich will. Arbeiten, wo ich will. Das ist Europa. Das ist die Zukunft. Das ist vielleicht die größte Leistung unserer Generation.«
»Vielleicht wollte Schwerdtfeger genau das Gleiche«, sagte ich.
»Und dann hat Jacek ihn hierhergelockt und ihm eins über den Schädel gegeben? Nein. Das ist unmöglich.«
»Was, wenn es Notwehr war?«
»Dann muss es einen Angriff gegeben haben. Nur warum?«
Marie-Luise nahm einen letzten Zug und warf die Kippe ins Wasser. Sie sah etwas besser aus. Die blauen Flecken nahmen langsam eine gelblich-grüne Farbe an, die Wunden verschorften. Sie trug eine meiner Jeans und einen Pullover. In Paulinas Kleid wäre sie erfroren.
Ich versuchte noch einmal, Zuzanna zu erreichen, aber sie nahm den Anruf nicht an. Vielleicht war sie doch noch im Gefängnis, und das Telefon wartete in einem Schließfach am Eingang darauf, wieder abgeholt zu werden.
»Lass uns reingehen. Es wird kalt.« Ich stand auf und half ihr auf die Füße.
Wir überquerten die Straße, ohne nach links oder rechts zu sehen, weil man ein Auto schon in weiter Entfernung gehört hätte. Im Laufen warf ich einen Blick auf das Dorf, bevor es von der Biegung verschluckt wurde. Die Häuser schienen enger zusammengerückt zu sein, so, als ob sie beieinander Schutz suchten. Aus einigen Schornsteinen stieg zarter Rauch. Es war Hochsommer, und man musste heizen.
»Hast du genug Decken?«, fragte ich.
»Ja.«
»Reicht das Essen?«
Ich hatte ihr zwei Tüten mit Vorräten mitgebracht. Alles Dinge, die man ohne viel Aufwand verzehren konnte. Brot. Wurst. Käse. Gemüse. Obst. Erdnüsse. Müsliriegel. An der Kasse in Frankfurt/Oder hätte ich mich am liebsten mit aufs Rollband gelegt. Ich war müde und gereizt. Meine Niederlage bei Sinter hatte diesen Tag, der mit einem Höhenflug begonnen hatte, in einem schmerzhaften Aufprall enden lassen.
»Bis wann? Wie lange soll ich noch hierbleiben?«
»Ich weiß es nicht«, gab ich unfreundlich zurück. Natürlich half ich Marie-Luise. Aber ich musste dabei ja nicht die Laune eines Zirkusclowns versprühen. »So lange, bis ich mir sicher sein kann, dass sie dich nicht in Handschellen abführen.«
Sie warf mir einen kurzen Blick zu. Ich versuchte ein Lächeln, das misslang.
»Das Haus ist unheimlich.« Wir hatten die andere Straßenseite erreicht und blieben stehen. Sie betrachtete die Fassade mit den leeren Fensterhöhlen. »Es knarrt nachts. Es sind so viele Geräusche hier.«
»Hast du Angst?«
»Ja.«
Ich sah hinüber zu Mareks Kate. Obwohl die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, lag sie im tiefen Schatten des Weinbergs. Ein Schwarm Stare oder Krähen stieg auf, so genau konnte ich das nicht unterscheiden. Es wirkte leer.
»Wir Stadtmenschen haben keine Ahnung mehr, wie Natur sich anhört«, sagte ich ihr.
Sie stieg die Stufen zum Eingang hoch. »Bleibst du heute hier? Dann könnten wir noch eine Flasche Wein aufmachen. Irgendwo hat Jacek sogar selbstgebrannten Aprikosenlikör.«
Es klang harmlos, doch das Unausgesprochene, Unbewältigte stand zwischen uns.
»Lieber nicht, ich will heute Abend noch zurück. Irgendwann wird sich Zuzanna melden. Vielleicht hat sie ja schon sein schriftliches Geständnis.«
»Niemals«, sagte sie und ließ mich stehen.
Ich wusste nicht,
Weitere Kostenlose Bücher